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Warum wir neutral bleiben sollten

Von Gabriele Matzner

Gastkommentare

Die Neutralität bietet nicht automatisch Schutz - die Abkehr davon aber auch nicht.


Wieder einmal scheint für manche die Zeit gekommen, Österreichs Neutralität in Frage zu stellen, wie Franz Cede kürzlich in einem Gastkommentar wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine. Gewiss, dieser völkerrechtswidrige Krieg ist zu verurteilen. Aber welche Grundfesten erschüttert er, bedenkt man die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte? Seit dem Ende des Kalten Krieges war eine neue Nonchalance im Umgang mit Völkerrecht und Gewaltverbot zu beobachten. Das angeblich stabile Nachkriegssystem ging in Wahrheit mit dem vermeintlichen "Sieg" des Westens, der transatlantischen Gemeinschaft, zu Ende.

Eine Reihe verlustreicher, großteils völkerrechtswidriger, letztlich verlorener Kriege mit Millionen Toten gehen auf das Konto dieser Gemeinschaft, die sich unter US-Hegemonie eine Zeitlang zum Weltpolizisten aufschwang. Es schien, dass in den vergangenen 30 oder mehr Jahren Völkerrecht, UNO und andere internationale Organisationen "Auslaufmodelle" wurden. Wirklich sicher konnte sich der Großteil der Menschheit auch schon vor diesem Krieg nicht fühlen. Der Pegel gefühlter Schutz- und Ratlosigkeit vor allerlei Krisen und Gefahren steigt bereits seit längerem an.

Ein weiteres Argument, nämlich eine stabile politisch-militärische Ge- und Entschlossenheit des Westens, bei der man als Neutraler nicht abseits stehen dürfe, entspricht nicht der Realität. Neben gemeinsamen Interessen und Pfaden verfolgen alle auch eigene und nuancierte. Auch die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU ist nicht in Stein gemeißelt, ist im Fluss und bedarf der Abstimmung. Die Neutralität ist dabei kein Hindernis, die Neugestaltung der Verfassung erlaubt uns diesbezüglich etwas Spielraum, die "Irische Klausel" zu nutzen.

Für Cede ist die von einer stabilen, großen Bevölkerungsmehrheit bevorzugte Neutralität kein Teil österreichischer Identität. Das mag sein, aber die Kriegsmüdigkeit steckt in den Genen: Österreich hat seit der Schlacht bei Belgrad 1717 vor mehr als 300 Jahren keinen Krieg mehr gewonnen und sich mindestens zweimal als kleiner Bruder an der Seite eines mächtigeren Nachbarn in Katastrophen begeben. Die Vorstellung, als Teil eines Militärbündnisses geborgen zu sein, mag daher auf quasi erworbene Herdenimmunität stoßen. Sie ist auch historisch widerlegt. Der Bevölkerung ist vielleicht noch erinnerlich, dass Österreich durch seine Neutralität hohes internationales Ansehen genoss und sich immer wieder nützlich machen konnte, etwa bei der Entspannung zwischen Ost und West sowie im völkerrechtlichen und humanitären Bereich.

Ein ebenso großer Fortschritt wie Integration

Für die Aufgabe der Neutralität spreche auch, dass wir mit dem EU-Beitritt ja eigentlich längst nicht mehr neutral seien, wird argumentiert, jedenfalls nicht für die EU-Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Von der ursprünglichen Neutralität sei nur ein "bescheidener Rest" geblieben (dem Volk war zum Beitritt anderes versprochen worden). Es gelte in der EU vielmehr das Prinzip Solidarität und eine Art (auch militärischer) Beistandspflicht im Angriffsfall, die Vorrang vor der Neutralität habe. Wenn es diese Pflicht gibt, so gilt diese natürlich auch gegenüber Österreich, selbst wenn es neutral bleibt. Dass es keine absolute Sicherheit gibt, dass die Neutralität per se einen solchen Schutz nicht bieten kann, ist übrigens keine neue Erkenntnis, die den Status in Frage stellen sollte.

Was also brächte die Abschaffung der immerwährenden Neutralität? Wozu sollte Österreich der Nato beitreten, denn das ist doch das einzig logische Motiv für das Begräbnis der "Rest-Neutralität". Auch Nato-Mitgliedern ist übrigens militärischer Beistand nicht automatisch garantiert. Schon die geografische Lage lässt es überdies unwahrscheinlich scheinen, dass Russland (wie offenbar angenommen) Österreich überfallen würde, liegen doch die Nato-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn dazwischen.

Wie vernünftig wäre es, die Neutralität ausgerechnet dann zu begraben, wenn die Hütte brennt? Hat etwa die Schweiz die ihre aufgegeben, als ein viel brutalerer und verbrecherischer Krieg ringsum tobte, ausgelöst von einem viel bedrohlicheren unmittelbaren Nachbarn? Und was können Militärbündnisse (und Hochrüstung) gegen die großen Bedrohungen für die Menschheit, allen voran den Klimawandel, ausrichten? Neutralität sollte als ebenso großer zivilisatorischer Fortschritt gelten und entwickelt werden wie Integration. Statt ein Begräbnis vorzubereiten, sollten wir diskutieren, wie wir sie (wieder) glaubwürdig machen können, ohne Selbstüberschätzung, aber mit Selbstbewusstsein.

Ist der Westen nicht immer mehr isoliert?

Dabei wäre zu berücksichtigen, dass die sogenannte westliche Wertegemeinschaft ein Auslaufmodell ist. Ihre Macht erodiert schon seit geraumer Zeit. Neben den üblichen Verdächtigen Russland und China emanzipieren sich immer mehr Länder des globalen Süden von westlicher Hegemonie, bilden neue Gruppierungen und Institutionen. Frustration und Unverständnis über westliche Politik nehmen zu, nur rund 40 der insgesamt 193 Mitgliedstaaten der UNO machen bei der Sanktionspolitik gegen Russland mit. Versuche, Gespräche und Verhandlungen zu fördern, die eventuell zu Waffenstillstand und Frieden in der Ukraine führen, gehen leider nicht von Österreich aus, sondern von blockfreien Ländern aus dem globalen Süden.

Ist der Westen nicht immer mehr isoliert? Wäre es nicht Zeit für Neubesinnung und einen Brückenschlag zum großen "Rest" der multipolaren Welt, statt etwa nun auch (zunächst verbale und wirtschaftliche) Geschütze gegen China in Stellung zu bringen? Zu einer der multipolaren Konstellation Rechnung tragenden Neubesinnung könnte Österreich beitragen und so seiner Neutralität neues Leben einhauchen. Wir hatten über Jahrzehnte Übung mit einer konstruktiven aktiven Außenpolitik. Deren Ziele und Mittel waren: Hilfe bei Konfliktbearbeitung, Streitbeilegung, freier Gedankenaustausch, Vermittlung, Entspannung, Förderung der Entwicklung von Völkerrecht und Menschenrechten, Ermöglichung von Begegnungen und Verhandlungen, humanitäre Hilfen, und vieles mehr. Auferstehung ist möglich - und sinnvoll.