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Das türkische Beispiel

Von Haimo L. Handl

Gastkommentare
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Haimo L. Handl ist Politik- und Kommunikationswissenschafter.

Beim Protest in der Türkei geht es längst nicht mehr um größenwahnsinnige Bauvorhaben, es geht um die Zivilgesellschaft, der kein Raum gewährt wird.


Die Türkei gilt seit langem als aufwärtsstrebende Nation, wirtschaftlich erfolgreich, prosperierend, islamisch gemäßigt. Das "Kurdenproblem" wurde "annehmbar" gelöst. Aber die Großmachtsucht der Türkei, vor allem getrieben von der Führerqualität ihres Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, schafft Probleme. Weniger außenpolitisch, obwohl die Türkei jeden Aufstand, jeden Krieg in der Region nutzt, um ihre Position als Leitmacht der Region zu stärken. Vielmehr innenpolitisch. Es geht diesmal nicht um den Islam und die Ungläubigen. Es geht um die Zivilgesellschaft.

Die Türkei hat mit ihrer Modernisierung trotz der islamischen Ausrichtung und der kontinuierlichen "Islamisierung" durch die Regierungspartei AKP eine Mittelschicht, vor allem in den Städten, die nicht mehr einhellig, wie früher, den paternalistischen Regierungsstil hinnehmen will, die nicht mehr die Einschränkungen und Bevormundungen akzeptieren will.

Es geht längst nicht mehr um Bauvorhaben, die an den Größenwahn eines Nicolae Ceausescu erinnern, es geht um die Zivilgesellschaft, der kein Raum gewährt wird. Es sind nicht nur die Studenten und jungen Leute, die aufbegehren. Es ist ein Teil der Mittelklasse. Aber nur ein Teil eben. Der größere steht hinter Erdogan und seiner Unterdrückung, die als einziger, richtiger Weg für die islamische Türkei gesehen wird. Da die Regierung eben diese Anhängerschaft mobilisiert, wird der Konflikt in naher Zukunft eskalieren. Das verheißt für die Türkei nichts Gutes.

Irgendwie erinnert Erdogan an Kaiser Franz Josef, der seine Zeit nicht mehr verstand und im besten Glauben sich als geliebter Vater, als Übervater des Vielvölkerstaates sah. Erdogan ist moderner. Trotzdem zeigen seine Wertauffassungen und sein Weltbild eine vorgestrige, unmoderne Haltung und Orientierung. In dem Maße, wie die Türkei die zaghafte Modernisierung beibehält, wird die Kluft wachsen. Das Land wird auf die Probe gestellt.

Faschistische, diktatorische Länder können paradoxerweise zugleich "modern" und wirtschaftlich potent sein; wir kennen viele Beispiele. Aber wenn die Zivilgesellschaft einmal etwas Freiheit gekostet und genossen hat, ist der Keim des Veränderungswillens, des Verlangens nur mehr durch Polizeiterror oder Bürgerkrieg auszurotten. (Ein ähnliches Problem hat Russland.)

Würden die europäischen Regierungen nicht so willig den amerikanischen Vorgaben folgen, wären sie nicht selbst an Kriegen und Kriegsgewinnen im Sinne der westlichen Hegemonialpolitik interessiert, sie verhielten sich anders: gegenüber Syrien, gegenüber der Türkei. So aber hat Erdogan Chancen, sein Land in bewährter, mafiotischer Art zu regieren, zu kontrollieren, zu "verwalten", koste es, was es wolle.

Der Konflikt ermöglicht nun aber plötzlich andere Berichte aus dem Land und über seine tiefverwurzelten Probleme. Auf einmal geht es nicht primär um Religion und moslemische Kultur, sondern um das herrische Vorgehen gegen muslimische Bürger in einem islamischen Land, das eigentlich modern sein wollte.