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Proteste in Brasilien - eine Fortsetzung des Kampfs gegen Armut

Von Heidi Dumreicher

Gastkommentare
Heidi Dumreicher ist Gründerin und Direktorin des österreichischen Forschungs-Vereins "Oikodrom" mit Schwerpunkt nachhaltige Stadt und Leiterin zahlreicher internationaler Forschungsprojekte.

Die Mittelklasse, die die Proteste in Brasilien trägt, konnte entstehen, weil seit den 90er Jahren Programme im Kampf gegen die Armut entwickelt wurden.


Alle Analysen zeigen die Träger des Aufruhrs in Brasilien: Es sind Angehörige der jungen, aufsteigenden Mittelklasse. Ein Rückblick: In den 80er Jahren konnte die Autorin anlässlich einer monatelangen Fact-Finding-Tour durch etliche Provinzen Brasiliens die Bilder von Armut verfolgen: "sem teras", die Bewegung der Landlosen, die auf Suche nach Lebensunterhalt quer durch das Land zogen; Garimpeiros, Goldsucher, in unheilvollen und gefährlichen Gold-Abbau-Pyramiden mit täglich tödlichen Unfällen; Vertreter der Befreiungstheologie, die die Bauern zu stützen suchten, wenn Privatarmeen sie vertreiben wollten; Straßenkinder-Projekte, um Kindergartenkinder beim Verkauf von Kleinwaren zu unterstützen; Seringheirus (Gummisammler), die tagtäglich ihre Runden drehten, um die Gummibäume anzuzapfen; der österreichische Bischof Kräutler, der im Norden des Landes den Raubbau im Urwald bekämpfte und eine Art Volksheiliger wurde; Theatermacher Augusto Boal, der mit den Arbeitern die Selbst-Ertüchtigung probte ("das Theater als Laboratorium für die Wirklichkeit").

Daneben gab es damals schon Initiativen der Entwicklungszusammenarbeit, von kleinen Hilfsgruppen bis zu Projekten von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, die eine mögliche Zukunft zeigten, wie Menschen aus der Armutsfalle herauskommen können.

Aus diesen vielen Klein- und Mittelprojekten ist ein Prozess der Veränderung zusammengewachsen, der sich jetzt in den Bewegungen der Mittelklasse zeigt - eine Mittelklasse, die entstehen konnte, weil Brasilien seit Anfang der 90er Jahre konsequent und innovativ Programme im Kampf gegen die Armut entwickelt und anwendet. Mehr als 30 Millionen Brasilianer haben so in den vergangenen zehn Jahren einen Ausweg aus extremer Armut gefunden.

In die Gegenwart - Beispiel Rio de Janeiro: Das EU-Forschungsprojekt NOPOOR hat unter Beteiligung des österreichischen Vereins "Oikodrom" im Juni zu einem Expertengespräch eingeladen, wo brasilianische Politiker und NGOs mit Armuts- und Entwicklungsforschern aus vier Kontinenten diskutierten - über Erfolge und Misserfolge im Kampf gegen die Armut in Brasilien, über Beispiele, wie es gehen könnte, und um Wege in eine nachhaltige Zukunft zu organisieren, strukturell wie auch auf lokaler Ebene.

Die Stadtverwaltung entwickelt derzeit zahlreiche Projekte für die von Armut betroffenen Menschen in der Stadt: "Die Schulen von morgen", "Mutterliebe" oder die "Carioca Familienkarte". Die Erfolge sind messbar: Die Schüler sind häufiger in den Klassenräumen präsent, Eltern nehmen öfter an Elterntreffen teil, Arm und Reich haben ähnlichere Schulerfolge, verwaiste Kinder bekommen besondere Unterstützung.

Die lokalen Projekte in Rio de Janeiro fügen sich in landesweite Projekte ein, wie das Sozialprogramm "Bolsa Familia", das Geld an Menschen in Armut verteilt und die Teilnahme an Bedingungen knüpft, etwa an den Schulbesuch der Kinder oder die regelmäßige Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen. Dazu Xavier Oudin, wissenschaftlicher Koordinator von NOPOOR: "Wo Armut fortbesteht, ist Raum für politische Veränderungen."