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Die Jungen in Mali träumen von Europa oder den USA

Von Ingrid Thurner

Gastkommentare

Von den industriellen Errungenschaften kennen die Leute in Mali im Wesentlichen bloß die negativen Begleiterscheinungen.


Da am Sonntag ein neuer Präsident gewählt wird, ist Mali wieder einmal von medialem Interesse. Dabei ist viel die Rede von Konflikten zwischen einigen Bevölkerungsgruppen. Die Afrika-Berichterstattung macht es sich leicht und wiederholt, was erwartet wird: ethnische Konflikte, rassistische Auseinandersetzungen. So sind komplexe Sachverhalte einfach darzustellen.

Tatsächlich aber geht es um den Zugang zu Ressourcen und um Macht. Denn die verschiedenen, sprachlich, ethnisch und kulturell heterogenen Gruppen nutzen bei unterschiedlicher ökonomischer Basis - Bodenbau, Viehzucht, Fischfang, Handel, Handwerk - seit jeher gemeinsam Lebensräume.

Aber nun haben sich im Kampf ums tägliche Leben Konflikte verschärft - durch Populationsdruck, Trockenheit, Desertifikation, Verknappung von natürlichen Gütern. Zudem gibt es die von außen hineingetragenen Probleme wie den Import von Kämpfern, die jeweils einen eigenen Staat verwirklichen wollen.

Nicht zuletzt ist da auch das ökologische Desaster, dem die Anrainerstaaten des Niger seit langem entgegenschlittern, denn die Industrie- und Haushaltsabwässer von vier Ländern werden in den Fluss entsorgt. Gegen dessen Verschmutzung schreiben die Zeitungen seit Jahren vergebens an. Und diese teils stinkende, teil schäumende, teils schillernde Kloake liefert das Trinkwasser ganzer Landstriche, deren Bevölkerung es sich nicht leisten kann, ihren Bedarf an der staatlichen Pumpstation zu decken. Zudem ist der Tag absehbar, an dem im Sahel entlang des Flusses kein Baum mehr stehen wird, den man fällen könnte, weil zur Holzgewinnung bloß geschlägert, aber kaum je aufgeforstet wird.

Ungefähr seit 10 bis 15 Jahren träumen einfach alle Jungen von Europa oder den USA, vorher war das nicht so ein allgegenwärtiges Thema. Beamte oder Angestellte, davon gibt es jedoch nur wenige, verdienen vielleicht 100 oder 150 Euro im Monat, das ist schon viel, und die Waren sind teurer als in Europa. Ein minderjähriges Dienstmädchen in Bamako arbeitet für 10 Euro im Monat. Es gibt fast keine Industrie, den Rohstoff-Abbau kontrollieren einige Global Player, und nach der Baumwolle giert Monsanto.

Von den industriellen Errungenschaften kennen die Leute in Mali im Wesentlichen bloß die negativen Begleiterscheinungen, die Waffen und die Krankheiten. Sie sehen keine Perspektive, niemand gibt ihnen Arbeit, die Medikamente gegen Malaria sind unerschwinglich, ebenso die Mobiltelefone, von denen sie bloß die Werbung sehen, und statistisch sind sie mit 53 Jahren schon gestorben. Karrieren, die ihnen offenstehen: Waffenschmuggler, Drogenschmuggler oder Söldner für irgendeine Miliz - Berufe mit geringer Lebenserwartung.

Einige Stars westafrikanischer Herkunft aus der Weltmusik- und der Fußballszene sind die unerreichbaren Vorbilder der Jugend. Unter diesen Umständen ist es kaum erstaunlich, dass junge Männer und Frauen unbedingt nach Europa wollen, irgendwie, egal zu welchem Preis - auch um den des Lebens. Das erscheint vielen allemal sinnvoller, als auf Gelder zu warten, die vielleicht kommen und vielleicht auch nicht.

Ingrid Thurner ist Ethnologin, Lehrbeauftragte am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien und Mitglied der Initiative Teilnehmende Medienbeobachtung (www.univie.ac.at/tmb).