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Weltweite elektronische Schnüffelei ist "patriotische Pflicht"

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare
Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland der "Salzburger Nachrichten".

Für krasse Rechtsbrüche der USA gibt es keinerlei Entschuldigung, wohl aber eine psychologische Erklärung: den Schock von 9/11.


Der aufgedeckte weltweite Lauschangriff des US-Geheimdienstes NSA bricht zwar Völkerrecht und die US-Verfassung, regt aber die Öffentlichkeit in den USA kaum auf. Doch geradezu hysterisch reagierten die USA, als der Geheimdienstler Edward Snowden im Juni die Methoden der Überwachung des weltweiten Internetverkehrs mit der Begründung veröffentlicht hatte, dass die US-Regierung mit ihrer Schnüffelei "grundlegende Freiheiten weltweit zerstört".

Für die Verstöße der USA gegen ihre Verfassung und das Völkerrecht gibt es keine Entschuldigung, wohl aber eine psychologische Erklärung: den Schock von 9/11. Das war der erste militärische Angriff auf das Festland der USA. Seither ist nationale Sicherheit um beinahe jeden Preis eine patriotische Pflicht mit Vorrang vor allen anderen Erwägungen.

Die amerikanische Revolution gegen die britische Krone (1776 bis 1781) errang den ersten demokratischen Rechtsstaat. Aber die jungen USA fühlten sich von europäischen Kolonialmächten in Kanada und Lateinamerika "umzingelt". Deshalb erklärte US-Präsident James Monroe 1823 mit seiner Doktrin die Neutralität gegenüber Europa, solange Europa seine Finger nicht in amerikanische Angelegenheiten stecke - vor allem nicht in Lateinamerikas Revolten gegen die Kolonialmächte.

Das funktionierte. Bis zum Ersten Weltkrieg fühlten sich die USA zwischen zwei Ozeanen sicher.

Aber 1917 löste die "Zimmermann-Note" einen Schock aus: Der britische Geheimdienst dechiffrierte ein telegrafisches Angebot des deutschen Staatssekretärs Arthur Zimmermann an die mexikanische Regierung: Träten die USA in den Krieg gegen Deutschland ein, gewänne Mexiko als Partner Deutschlands die 1848 verlorenen Gebiete Texas, Arizona und New Mexico zurück. Prompt erklärten die USA Deutschland den Krieg, auch um den deutschen U-Boot-Krieg gegen den amerikanisch-britischen Nachschubverkehr zu unterbinden. Mexiko rührte aber keinen Finger, und die USA wähnten sich weiter zwischen zwei Ozeanen sicher - bis zum nächsten Schock im Dezember 1941, Japans verheerendem Überraschungsangriff auf Pearl Harbor. Es folgte eine Kriegserklärung der USA an Japan und eine Adolf Hitlers - aus Bündnistreue zu Japan - an die USA. Hitlers totaler U-Boot-Krieg im Atlantik sollte die Achse Washington-London brechen.

Im Jänner 1942 zerstörte der nächste Schock den Traum der USA von der Sicherheit zwischen zwei Ozeanen. Vor der US-Ostküste kreuzten ungehindert deutsche U-Boote und versenkten binnen vier Wochen 23 US-Schiffe buchstäblich in Sichtweite von New York. Es dauerte gut ein Jahr, ehe die USA mit Radar und Sonar die entscheidende Waffe im U-Boot-Krieg einsatzbereit hatten.

Im Zeitalter des strategischen Patts zwischen den Atommächten und des internationalen Terrors sollte die internationale Überwachung aller Kommunikationswege durch die NSA die Sicherheit der USA verbessern. Die Amerikaner empfinden das als "patriotische Pflicht" und empören sich über den Verräter Snowden und den Zorn der restlichen Welt. An "elektronische Abrüstung" denken also nur Träumer.