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Geheimnis und Gesellschaft

Von Gastkommentar von Adrian Lobe

Gastkommentare

Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat sich auch der Umgang mit dem Geheimnis verändert.


Das Geheimnis galt als Charakteristikum der vormodernen Gesellschaft. Es war vermachtet, bedeutete Herrschaft. Seit der Aufklärung duldet der Citoyen keine Arkana. Doch eine moderne Gesellschaft kann ohne Geheimnisse nicht existieren.

Edward Snowden hat mit seinen Enthüllungen über die Machenschaften des US-Geheimdienstes ein politisches Erdbeben ausgelöst. Die USA werfen ihrem Ex-Agenten Geheimnisverrat vor. Die Brisanz seiner Enthüllungen liegt darin, dass die klassifizierten Informationen für seinen sensiblen Sicherheitszweck bestimmt waren. Staatsgeheimnisse. Top Secret. Die Frage ist nicht nur, ob er ein Held oder ein Verräter ist, sondern, welchen Raum das Geheimnis überhaupt in unserer Gesellschaft einnimmt. Wie geheim dürfen Geheimdienste sein? Darf es noch Geheimnisse geben?

Es ist das Grundproblem einer freien Gesellschaft: Demokratien gründen auf den Prinzipien der Öffentlichkeit und Transparenz, Nachrichtendienste sind der Geheimhaltung und Verschwiegenheit verpflichtet. Das passt nicht zusammen. Schon Juvenal fragte: "Wer bewacht die Wächter?"

In Deutschland ist das Parlamentarische Kontrollgremium mit der Kontrolle der Geheimdienste befasst. Doch auch dieses Gremium tagt geheim, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Geheimdienstkontrolle im Verborgenen. Der grüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele sagte einmal, wenn er etwas sagen könnte, dürfe er es nicht. Nun ist das Wesen von Geheimdiensten, dass sie im Geheimen operieren. Beim Bundesnachrichtendienst soll alles so geheim sein, dass nicht einmal die Feuerwehr bei einem Brand in der neuen Zentrale an der Chausseestraße in Berlin-Mitte unbegleitet löschen darf - was nach Publikwerden natürlich kein Geheimnis mehr ist.

Im digitalen Medienzeitalter haben sich die Parameter verschoben. Im Netz ist grundsätzlich nichts mehr geheim. Informationen werden in Windeseile über soziale Netzwerke orchestriert, billionenfach werden Texte, Fotos, Videos gepostet, das Private wird öffentlich. Informationen sind im digitalen Zeitalter leichter zugänglich, aber auch schwieriger zu kontrollieren. Wer sich persönlicher Daten entäußert, hat keine Verfügungsgewalt mehr darüber. Werden brisante Informationen nicht verschlüsselt, gelangen sie mitunter in die falschen Hände. So wie die Internetplattform WikiLeaks tausende streng geheime diplomatische Kabel enthüllte.

Doch das klassische Sender-Empfänger-Prinzip einer Botschaft hat sich im Cyberspace verwässert. WikiLeaks zwingt zu einer Diskussion, wo im Internet-Zeitalter die Grenzen der Geheimhaltung liegen. Die Rahmenbedingungen des Regierens - die Struktur der Institutionen, die Politikinhalte exekutieren - haben sich dramatisch geändert.

"Doktrin der nationalen Sicherheit" in Diktaturen

Im Altertum hüteten nicht nur Gott und Staat Geheimnisse ("arcana dei" und "arcana imperii"), sondern auch die Natur umgab die Aura des Geheimnisvollen. Phänomene (wie der Magnetismus) waren nicht erklärbar und harrten der Entdeckung. Die Sphäre zwischen Wissen und Unwissen, Erkenntnis und Geheimnis war stark getrennt.

In autoritären Staaten wird das Geheimnis mit der "Doktrin der nationalen Sicherheit" gerechtfertigt: Offenheit und andere demokratische Werte werden der Staatsräson untergeordnet. Im demokratischen Rechtsstaat dagegen gilt der Grundsatz der Öffentlichkeit ("res publica"). Es gibt aber auch hier rechtmäßige Geheimnisse: Das Strafrecht kennt eine Verschwiegenheitspflicht für Geheimnisträger wie Ärzte oder Anwälte und stellt Offenbarungen unter Strafe. Das Staatsgeheimnis ist durch den Bestand des Staates geschützt. Paragraf  93 Absatz 1 im deutschen Strafgesetzbuch definiert Staatsgeheimnisse als "Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und vor einer fremden Macht geheim gehalten werden müssen, um die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden". Das Geheimnis wurde zum wesentlichen Instrument für die Sicherung der inneren Souveränität.

Dogmengeschichtlich spielt die Lehre der "arcana imperii" eine wichtige Rolle. Arnoldus Clapmarius formulierte: "Staatsgeheimnisse sind meiner Definition nach innerste und geheime Mittel und Ratschläge derer, die im Staat die Herrschaft innehaben, und dienen teils der Erhaltung der Ruhe in demselben, teils auch der Erhaltung der bestehenden Staatsverfassung, beziehungsweise dem öffentlichen Wohl."

Die Arkanpolitik war ein Teil der Staatsräson und diente dem Schutz der Republik. Niccolò Machiavelli dozierte, ein guter Herrscher müsse seine wahren Absichten verbergen. Geheimhaltung wurde zu taktischer Überlegenheit - aus ihr erwuchs Macht. Im Geheimen regierte der Fürst sein Land, hielt Rat mit den Ministern, abgeschirmt von Feinden. Je höher jemand in der ständischen Hierarchie stand, desto ausgeprägter war sein Privileg auf Geheimnis, also auf ein Handeln, das vor keinen Richterstuhl der Öffentlichkeit zu ziehen war.

Aufgeklärter Bürger in der Neuzeit verlangte Einsicht

In manchen Schweizer Aristokratien wurden die wichtigsten Ämter als "die Heimlichen" bezeichnet. Die "arcana imperi", die geheimen Staats- und Regierungskünste, bildeten das Kernstück der Politik. Herfried Münkler konstatiert: "Der moderne Staat wurde zum Monopolisten des Politischen, als es ihm gelang, zum Herrn über das zentrale Geheimnis zu werden und dabei die religiösen Konkurrenzen aus dieser Position zu verdrängen." Doch die enge Verbindung von Autorität und Geheimhaltung stand im Widerspruch zur Publizität.

In der Neuzeit änderte sich das Bild. Der aufgeklärte Bürger verlangte Einsicht in das Regierungshandeln. Der Staat sollte nicht mehr in Hinterzimmern Beschlüsse auskungeln, sondern den Bürger in Kenntnis setzen und Rechenschaft ablegen. Das Geheime musste dem hellen Licht der Vernunft weichen; es verlor seine herrschaftslegitimierende Funktion ein. Wo etwas geheim zugeht, wittert der Bürger Ausgrenzung, Konspiration, Verschwörung. In unserer Gesellschaft herrscht der Glaube, Publizität sei das Vehikel und die Gewähr der Wahrheit, der Richtigkeit und Überprüfbarkeit. Das Geheime umhüllt der Schleier der Unregelmäßigkeit und Unwahrheit. Daher muss alles publik gemacht werden.

Aus dieser Triebkraft heraus veröffentlichte WikiLeaks auch abertausende Depeschen, von denen viele gar nicht so geheim eingestuft waren, wie das gerne verkauft wurde. "Das Zeitalter der Geheimnisse ist vorbei", jubilierten die Zeitungen. Julian Assange brüstete sich: "Wir stehlen Geheimnisse." Die Transparenz-Verfechter verbuchen das Verschwinden des Geheimnisses als einen Schritt in Richtung Egalität. Mit WikiLeaks ist das Geheimnis freilich nicht verschwunden. Lediglich die Frage, wer die Verfügungsgewalt darüber besitzt, hat sich verschoben. Und auch ist nicht abschließend geklärt, ob Assange vielleicht doch richtig geheime Dokumente zurückgehalten hat. Wer weiß das schon?

Moderne Gesellschaft braucht Geheimnisse

Geheimnisse sind durchaus nützlich. "Das Geheimnis ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit", schrieb Georg Simmel 1906 in seiner "Soziologie". Denn ohne Geheimnisse funktioniert eine moderne Gesellschaft nicht. Simmel schildert, wie das Geheimnis proportional zur Ausdifferenzierung der Gesellschaft wächst. Die Öffentlichkeit ist kein uniformer Raum mehr, sondern besteht aus vielen Nebenräumen. Da ist genügend Platz für Geheimnisse. Und in diesem Licht wird auch das Mantra der Aufklärung zur Illusion. Gerade weil wir die ganzen Winkel nicht mehr ausleuchten können, potenzieren sich Dunkelräume.

Der Kulturtheoretiker Hartmut Böhme schrieb 1997 in der "Neuen Zürcher Zeitung": "Es ist eine der großen Selbsttäuschungen unserer Gesellschaft, dass sie, auf Information und Aufklärung, auf Kommunikationstechniken und Massenmedien setzend, Geheimnisse aufzulösen glaubt; sie erzeugt Geheimnisse im selben Maße, wie sie diese beseitigt."

Ein Gedankenexperiment: eine Gesellschaft, in der (wie in der Utopia) jedes Geheimnis verbannt wäre. Liebende, die einander nichts mehr verschweigen, weil sie alles über den anderen wissen. Künste, die nicht mehr die Magie des Unerklärlichen haben. Eine Wissenschaft, die die höchste Wahrheit repräsentiert. Es wäre der absolute Staat. Böhme schreibt: "Wenn alles Geheimnis aus beabsichtigtem oder unwillkürlichem Dunkel bestünde, würde jede Aufklärung, die es beleuchtet oder enthüllt, immer nur das am Geheimnis ‚entdecken‘, was ihr so entgegengesetzt wäre wie das Verbrechen dem Detektiv. Das Geheimnis ist aber nicht der Gegensatz zur Aufklärung, sondern ihr Anderes. Das Dunkle ist nicht die Abwesenheit des Lichtes, sondern eine andere Wesenheit und Qualität."

Aufklärung und Geheimnis sind kein Nullsummenspiel. Das eine bedingt das andere. Es ist die Ironie der Geschichte, dass die libertäre Netzbewegung gerade jenen Zustand befeuert, vor dem sie immer warnen: den gläsernen Bürger. Die totale Transparenz mündet in einer dystopischen Gesellschaft. Wo nichts mehr geheim ist, ist alles offen. Staat und Bürger sind durchschaubar. Dabei hat jeder Bürger etwas zu verbergen - ohne sich gleich des Verdachts des Kriminellen ausgesetzt zu sehen. Wo er sich aufhält, mit wem er spricht, welche Krankheiten er hat. Das geht niemanden etwas an. Das Fernmeldegeheimnis, auf das sich die Datenschützer gerne berufen, setzt dem Staat das entgegen, was sie an ihm kritisieren: das Geheimnis. Wer die Privatsphäre verteidigen will, der muss auch das Geheimnis schützen. Es ist das letzte Refugium, in dem Staat und Bürger ihre Integrität wahren können.

Adrian Lobe: Der freie Journalist studiert Politik- und Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg und ist für verschiedene Zeitungen im deutschsprachigen Raum tätig.