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Putin, Churchill und ein müder Kontinent

Von Christian Ortner

Gastkommentare
Christian Ortner.

Europa schuldet Russlands Präsidenten Dank: Er hält uns gerade einen Spiegel unserer eigenen Unzulänglichkeiten vor.


Fände heute in Österreich eine Volksbefragung darüber statt, wie sich der Westen gegenüber der russischen Aggression in der Ukraine verhalten solle, wäre das Ergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit ziemlich eindeutig: Das mögen sich bitte Ukrainer und Russen miteinander ausschnapsen, uns geht das herzlich wenig an, wir halten uns da raus. Die Bereitschaft der Bevölkerung, im Falle einer wirtschaftlichen Konfrontation mit Wladimir Putins Reich wirtschaftliche Nachteile in Kauf zu nehmen, dürfte ungefähr so ausgeprägt sein wie die Lust, der Hypo noch ein paar Milliarden in den Rachen zu schieben.

Diese mit den Händen greifbare Stimmung dürfte in den anderen westeuropäischen EU-Staaten recht ähnlich sein. Für das Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen (und irgendwann des estnischen/litauischen/lettischen?) Volkes und die Durchsetzung des völkerrechtlichen Prinzips, wonach Grenzen nicht mit militärischer Gewalt verschoben werden dürfen, sind die meisten Europäer nicht zu Opfern bereit. Selbst die eher zögerlichen und wenig beeindruckenden Sanktionen der EU gegen die russische Aggression haben kaum Rückhalt in der Bevölkerung und sind daher überschaubar glaubwürdig.

Putin, ein cleverer Kenner europäischer Befindlichkeiten, weiß, dass er ziemlich ungestraft ziemlich weit gehen kann, bevor er mit ernsthaftem Widerstand rechnen muss. Das schadet natürlich dem nationalen Interesse der Europäer, ist aber ein von diesen weitgehend selbst verschuldetes Problem. Denn Europa wurde, vor allem in den Jahren nach dem Kollaps des Kommunismus, Opfer einer Illusion vom "Ende der Geschichte" (Francis Fukujama), an dem sich alle Nationen früher oder später zu liberalen Wohlfahrtsdemokratien nach europäischem Muster verwandeln würden, die ihre Meinungsverschiedenheiten in nächtelangen Brüsseler Verhandlungen, aber nie wieder mit militärischer Gewalt austragen würden.

Es war die Illusion von der überlegenen "soft power" der EU, die eine vom Atlantik bis weit nach Osten reichende Zone der Prosperität und des Friedens herzustellen vermöge. Und es war die Illusion, auf die Möglichkeiten der Projektion militärischer Macht immer mehr zu verzichten, um mittels einer scheinbaren "Friedensdividende" den Wähler bei Laune zu halten und zu ermöglichen, dass 7 Prozent der Weltbevölkerung in Europa 50 Prozent der globalen Sozialleistungen konsumieren. Diese vielleicht liebenswerte, aber infantile Illusion ließ Europa aus russischer oder chinesischer Sicht zu einer Art überschuldetem Altersheim verkommen, dessen konsumfixierten und mental verweichlichten Insassen nicht mehr wirklich bereit sind, ihre Interessen robust zu verteidigen.

Das ist natürlich übertrieben, im Kern aber auch nicht ganz falsch, wie nun die Stimmungslage zeigt.

Dass Völker unerfreuliche, in ihrem langfristigen Interesse aber leider gelegentlich nötige Konfrontationen scheuen, gab es in der Geschichte aus zutiefst menschlichem Sehnen nach Frieden immer wieder. Abzuwenden war diese Art der präventiven Kapitulation gegenüber einem Aggressor stets nur durch überragende Führungspersönlichkeiten vom Schlag eines Winston Churchill - weshalb Europa gegenüber Putin keine wirklich guten Karten hat.