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"Götzendiener dürfen keine Gotteshäuser unterhalten"

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare
Clemens M. Hutte war Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".

Mit der Parole "Bildung ist verboten" lenken Nigerias radikale Islamisten von den ethnischen und sozioökonomischen Problemen des Landes ab.


Die Mordliste der radikalislamischen Boko-Haram-Terroristen in Nigeria wächst beinahe täglich und kommt bis jetzt auf mindestens 6000 Opfer. Der Name ist Programm: "Bildung ist verboten." Das zielt auf die "Verwestlichung" des Landes und trifft damit das Christentum, das die Islamisierung des Südens zu verhindern trachtet.

Unter Bildung versteht Boko Haram ausschließlich Allahs Offenbarung im Koran. Sure 58, Vers 11 gebietet nämlich: "Um Rangstufen wird Allah jene von euch erhöhen, die glauben und denen Wissen gegeben wurde." Westliche Bildung kommt daher vom Teufel.

Allerdings verbietet der Koran (Sure 2, Vers 256) die Zwangsbekehrung, die Boko Haram vor allem in Nordost-Nigeria durchzusetzen versucht und deshalb mindestens 250.000 Menschen zur Flucht getrieben hat.

Hingegen hält sich Boko Haram bei der Zerstörung christlicher Kirchen an den Koran: "Götzendiener dürfen keine Gotteshäuser unterhalten, solange sie sich zum Unglauben bekennen" (Sure 9, Vers 17). Wozu benötigen dann bekehrte Muslime Kirchen?

Die religiöse Optik erfasst nicht Nigerias Grundprobleme, zu denen rund 400 Sprach- und Volksgruppen und die Teilung des Landes zählen: islamischer Norden und christlicher Süden. Harte Fakten wiegen indes noch schwerer. Binnen fünf Jahrzehnten wuchs Nigerias Bevölkerung um das Vierfache auf rund 170 Millionen an. Bei der Säuglingssterblichkeit hält Nigeria Platz 12 unter 176 Staaten. Die Arbeitslosigkeit steht bei 22 Prozent, aber gut 50 Prozent der Nigerianer leben unter der Armutsschwelle. Betroffen davon sind vor allem jene zwei Drittel der nigerianischen Bevölkerung, die jünger als 24 Jahre sind. Sie haben keine Perspektive und sind für Boko Haram anfällig, weil diese radikalen Islamisten für den Tod im Kampf gegen Ungläubige gemäß dem Koran ein herrliches Leben im Paradies versprechen - also Lohn im Jenseits für ein miserables irdisches Dasein.

Nigeria ist Afrikas erdölreichstes Land und weltweit der sechstgrößte Erdölexporteur. Seit den 1970ern setzt Nigeria auf Erdöl und würgte arbeitsintensive Wirtschaftszweige wie Landwirtschaft und Textilindustrie ab. Das setzte Arbeitskräfte frei und eine Landflucht in Gang. Deshalb drängen sich 50 Prozent der Nigerianer in Städten.

90 Prozent der Staatseinkünfte bringt das Erdöl. Aber die Petrochemie ist derart desolat, dass Nigeria Benzin importieren muss. Den Gewinn aus dem Erdöl stecken die dünne Oberschicht und die Armee ein. Folglich liegt Nigeria in Korruption auf Platz 144 und in Kriminalität auf Platz 140 unter 176 Staaten. Ein Beispiel: Woher stammen die Panzerspähwagen der Boko Haram? Starke Indizien verweisen auf korrupte Generäle, die es nicht stört, dass kriminelle Banden bei Boko Haram Unterschlupf finden und Gewalttaten als "Kampf gegen Ungläubige" ausgeben. So gewinnt die Armee ein Argument, um gegen Missliebige aller Art mit Folter und Mord vorzugehen. Man gibt eben vor, Boko Haram zu bekämpfen.

Für den Islam kämpfen Fundamentalisten, Kriminelle und auch jene Perspektivlosen, die der Afro-Franzose Frantz Fanon 1961 als "Verdammte dieser Erde" bezeichnet hat. Drohnen und Gewehre werden diesen Problemen nicht Herr.