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Der Genozid hat begonnen

Von Thomas Schmidinger

Gastkommentare

Nicht nur der religiösen Minderheit der Ezidi im Irak droht eine Katastrophe, sondern dem gesamten Mittleren Osten.


Kämpfer des selbsternannten "Islamischen Staates" haben am Sonntag große Teile der Region Jebel Sinjar eingenommen. Damit droht akut ein Genozid an der dort lebenden religiösen Minderheit der Ezidi (oder Jesiden). Diese bilden seit Jahrhunderten eine diskriminierte Minderheit, die Muslime und Christen als "Teufelsanbeter" bezeichnen. Dabei kennen sie gar kein personifiziertes Böses, keinen Teufel. In ihrer Mythologie wurde jener Engel, der sich weigerte, sich vor den Menschen zu verneigen, nicht in die Hölle verstoßen, sondern als besonders treuer Engel - schließlich hatte er sich an Gottes Gebot gehalten, nur ihn selbst zu verehren - als Vermittler zwischen den Menschen und Gott eingesetzt. Wenn die Ezidi also Taus Malek, den Engel Pfau, verehren, dann verehren sie nicht den Satan, sondern einen Vermittler zwischen der diesseitigen materiellen Welt der Menschen und dem Jenseitigen, der Welt Gottes.

Gerade weil die Ezidi kein absolutes Böses kennen, verfolgen sie Neid und Hass vieler Muslime und Christen in der Region. Über Jahrhunderte waren sie Pogromen ausgesetzt. So konnten sie sich nur in einigen gebirgigen Rückzugsregionen Kurdistans halten, im Jebel Shiman in Syrien, in der Nähe ihres heiligen Ortes Lalish, und im Gebel Sinjar, auf Kurdisch Shingal genannt. Andere flohen schon vor dem 19. Jahrhundert in den Kaukasus oder im 20. Jahrhundert aus der Türkei nach Europa.

Am Sonntag ist mit dem Jebel Sinjar das größte noch zusammenhängende Siedlungsgebiet der Ezidi im Irak von der Isis angegriffen worden.

Die der Regionalregierung Kurdistan unterstehenden kurdischen Peshmerga hatten sich aus bisher nicht geklärten Gründen aus der Stadt Sinjar zurückgezogen. Die verzweifelte Bevölkerung kämpft nun todesmutig mit den verbliebenen Waffen. Die Männer versuchten seither zumindest ihren Kindern und Frauen die Flucht in jene Berge zu ermöglichen, aus denen sie einst Saddam Hussein vertrieben und in der Stadt Sinjar angesiedelt hatte. Nun sind Zehntausende auf der Flucht und harren in der unmenschlichen Augusthitze in den baumlosen Berghängen des Sinjar-Gebirges mit dem Rücken zur syrischen Grenze aus. Von jenen, die in den bereits eroberten Siedlungen zurückblieben, gibt es Nachrichten, die das Schicksal all jener ankündigen, die den fanatischsten aller Jihadisten in die Hände fallen. Zivilisten sollen öffentlich enthauptet und auf andere Weise hingerichtet worden sein.

Den Verzweifelten sollen nun immerhin kurdische Milizen aus Syrien zu Hilfe geeilt sein, die in den vergangenen Wochen verzweifelt die dortigen kurdischen Enklaven gegen den "Islamischen Staat" verteidigten. Ob sie nun auch im Irak das Schlimmste verhindern können, ist zweifelhaft. Immerhin stoßen auch sie an die Grenzen ihrer Kampfkraft.

Nördlich von Mosul haben die irakisch-kurdischen Peshmerga zeitgleich den größten Staudamm des Irak aufgegeben, der nun von der Isis kontrolliert wird. Die Peshmerga scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, die Region zu verteidigen. Wenn jetzt keine internationale Militärintervention den "Islamischen Staat" zerschlägt, droht nicht nur für die Ezidi am Jebel Sinjar ein Genozid, sondern darüber hinaus eine Katastrophe für den gesamten Mittleren Osten.