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Verrat an Kobane und den Idealen der Demokratie

Von Thomas Schmidinger

Gastkommentare
Thomas Schmidinger ist Lektor für Politikwissenschaft an der Universität Wien und hat soeben bei Mandelbaum sein Buch "Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan" herausgegeben.

Der Westen muss den Kampf der Kurden gegen die IS-Terrorbanden effizienter unterstützen.


Seit mehr als zwei Wochen ist die kurdische Enklave Kobane den IS-Angriffen ausgesetzt. In der Stadt spielt sich ein verzweifelter Straßenkampf ab. Die Verteidiger fordern schwere Waffen, um sich verteidigen zu können. Für bloße Luftangriffe ist es mittlerweile zu spät. Wie schon im August im Irak droht unter den Augen der Weltöffentlichkeit erneut ein lange angekündigter Genozid stattzufinden. Dabei war klar, dass die IS-Terrorbanden nicht mit einigen kosmetischen Luftangriffen aufzuhalten sind. Seit sie in Mosul schwere Waffen der irakischen Armee erbeuten konnten und mit ihrem Bündnis mit den irakischen Baathisten militärisches Know-how erworben haben, verfügen sie über eine gut bewaffnete Armee. Eine solche kann mit Heldenmut und alten Kalaschnikows allein nicht dauerhaft aufgehalten werden.

Im Juli war es den von der PKK und ihrer syrisch-kurdischen Schwesterpartei PYD gegründeten kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und den Frauenverteidigungseinheiten YPJ noch gelungen, die Angriffe auf den seit 2012 im Windschatten des Bürgerkrieges von der Armee geräumten kurdischen Kanton abzuwehren. Nun kämpfen die Kurden bis zur letzten Frau und bis zum letzten Mann. Vor kurzem wurde angeordnet, dass sie ihre letzte Kugel für sich selbst verwenden können. Nach den Vergewaltigungen von Frauen und den Köpfungen gefangener Kämpferinnen und Kämpfer will niemand lebend dem IS in die Hände fallen.

Neben der YPG und YPJ sind allerdings immer noch tausende Zivilisten in der Stadt, die nun in der Falle sitzen. Die Türkei spielt dabei ein doppeltes Spiel. Einerseits wurden in den vergangenen Wochen zehntausende Flüchtlinge aufgenommen. Andererseits hat die Türkei seit Monaten weggesehen, wenn IS-Kämpfer und Waffen über ihr Gebiet transportiert wurden oder IS-Kämpfer in türkischen Spitälern wieder zusammengeflickt wurden. Während die Grenzen zu den kurdischen Gebieten sofort nach der Übernahme der Gebiete durch die Kurden 2012 geschlossen wurden, blieben jene zum IS offen.

Aber nicht nur die Türkei misst mit zweierlei Maß: Während die PKK auch noch auf der jüngsten Fassung der "Liste von Personen, Vereinigungen und Körperschaften zur Bekämpfung des Terrorismus" des EU-Ministerrates vom 22. Juli 2014 steht, fehlt vom IS dort jede Spur. Nicht nur die US-Politik gegenüber den Kurden, sondern auch jene der EU scheint maßgeblich in Ankara und nicht in Brüssel betrieben zu werden. Dabei erklärte erst jüngst US-Vizepräsident Joe Biden öffentlich, dass das Problem der USA ihre Verbündeten wären. Konsequenzen werden daraus allerdings keine gezogen.

Mit dem Fall Kobanes würde einer von drei Kantonen der Kurden von den Dschihadisten überrannt. Als Nächstes könnte der größte der drei Kantone, die Cezire im Nordosten Syriens, in den Fokus der Angriffe kommen. Hier leben mehr als eine Million kurdische, christlich-aramäische, armenische und arabische Zivilisten, die nun unmittelbar bedroht sein könnten. Erste Angriffe auf Dörfer in der Region fanden bereits statt. Wird die Welt auch diesmal zusehen? Dies wäre nicht nur ein Verrat an den Kurden, sondern auch an den selbst proklamierten Idealen der Demokratie.