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Eine neue Friedens- und Sicherheitsarchitektur für Europa

Von Thomas Roithner

Gastkommentare
Thomas Roithner ist Friedens forscher und Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien (www.thomasroithner.at).

Friede ist bedeutend mehr, als militärisch nicht bedroht zu werden.


Es gehört offenbar zum Ritual, politisch verdorbene internationale Beziehungen durch Drücken irgendwelcher "Restart"-Buttons zu reaktivieren. Nicht zum ersten Mal wurde - jüngst von der neuen Außenbeauftragten Federica Mogherini - erklärt, man wolle die Beziehungen zwischen der EU und Russland rebooten, um morgens unmittelbar dort weiterzumachen, wo man abends zuvor das Tagwerk beendet hat. Es ist fraglich, ob es so ein Akt politischer Einfallslosigkeit überhaupt in den Pressespiegel auf Wladimir Putins Schreibtisch schafft.

Im November 2009 hatte der seinerzeitige russische Präsident Dmitrij Medwedew einen 14 Artikel umfassenden Vertragsentwurf über die europäische Sicherheit zur Diskussion gestellt. Dieser richtete sich nicht nur an die Staaten, sondern auch an die Sicherheitsorganisationen zwischen Vancouver und Wladiwostok und wurde von den transatlantischen Partnern flink schubladisiert. Dabei wäre die EU gut beraten gewesen, zumindest über einige Teile in Gespräche zu treten.

Die von Russland vorgeschlagenen Mechanismen der Streitbeilegung hätten sich heute möglicherweise genauso wie die Regelungen zur Unterbindung bewaffneter Überfälle bewähren können. Auch die diplomatischen Möglichkeiten zur sicherheitspolitischen Vertrauensbildung wären eine Debatte wert gewesen. Die Neutralität ist in diesem Vertragsentwurf ausdrücklich gesichert worden. Auch wenn die von Medwedew vorgeschlagene Beistandsverpflichtung nicht an eine moderne Friedenspolitik, sondern an den Kalten Krieg denken lässt, wären doch einige Eckpunkte problemlos als Gemeinsamkeiten definierbar gewesen.

Die seinerzeitigen Kriege gegen Jugoslawien oder den Irak musste Russland unter lautstarkem Protest zur Kenntnis nehmen. Die Erteilung eines UN-Mandats in Libyen war Moskau eine Lehre. Heute übt sich auch Russland in der einseitigen Interpretation des internationalen Rechts. Die EU hat offenbar immer noch Francis Fukuyamas "Ende der Geschichte" als Einschlaflektüre auf dem Nachttisch und denkt, dass die seit 1999 an den Tag gelegte Distanz zum Völkerrecht von anderen Staaten aus militärischen, geopolitischen und geoökonomischen Gründen nur hingenommen werden kann. Welch selbstverliebter Irrtum, dem auch Österreich anheimgefallen ist (siehe Verfassungsartikel 23 f). Es braucht eine Korrektur ohne Ausnutzung doppelter Standards.

Die Entwicklung der vielschichtigen Konfliktformationen zwischen den USA, China, Russland und anderen an Bedeutung gewinnenden Staaten und Staatenbündnissen ist schwer zu prognostizieren. Eine Zielsetzung muss jedoch sein, Konflikte frühzeitig auf Basis des internationalen Rechts zivil bearbeiten zu können. Die globalen Herausforderungen beziehen sich nicht nur auf gewaltsam ausgetragene Konflikte, sondern - wie die EU-Sicherheitsstrategie richtig ausführt - auf Armut, Hunger, Ungerechtigkeit oder die globale Erwärmung. Friede ist also bedeutend mehr, als militärisch nicht bedroht zu werden. Wer wenn nicht einzelne europäische Staaten sollten - möglicherweise in einem offen agierenden "zivilen Kerneuropa" - strategisch mehr in jene Instrumente investieren, die wirken, bevor der erste Schuss gefallen ist?