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"Wir können die Menschen nur mit Worten behandeln"

Von Emilie Rouvroy

Gastkommentare
Emilie Rouvroy ist Koordinatorin von Ärzte ohne Grenzen im ostukrainischen Luhansk.

In der Ostukraine fehlt es an Medikamenten, an Nahrungsmitteln, an Seife, an Windeln - an so gut wie allem.


Die Lage der Menschen in Luhansk verschlechtert sich rasant. Einige Krankenhäuser sind beschädigt worden, vergangene Woche wurde eine psychiatrische Klinik durch Granatenbeschuss zerstört. Der Nachschub mit Medikamenten ist unterbrochen, es kommen kaum noch Arzneimittel durch.

Als wir im Mai hier zu arbeiten begannen, konzentrierten wir uns darauf, die frontnahen Krankenhäuser mit Material zur Behandlung von Kriegsverletzten zu versorgen; die Front ist natürlich das Gebiet, in dem Menschen verletzt und getötet werden. Aber mittlerweile hat der Konflikt Folgen für die ganze Bevölkerung: Die medizinische Grundversorgung, die Mutter-Kind-Hilfe, die Behandlung chronischer Krankheiten - alle Bereiche sind betroffen. Viele Krankenhäuser oder Gesundheitszentren sind leer, weil es keine Medikamente gibt. Sobald wir Lieferungen bekommen, verteilen wir sie. Aber es reicht nicht. Ein großes Problem ist, dass es keine Narkosemittel für Operationen mehr gibt. Die Ärzte warten verzweifelt.

Es geht aber nicht nur um Medikamente. In Waisenhäusern, Alters- und Behindertenheimen habe ich Menschen getroffen, die schwach sind und nicht genug zu essen bekommen. Sie sind von Spenden und vom Wohlwollen der Menschen um sie herum abhängig; ihr Leben hängt an einem seidenen Faden. In den Küchen sind die Kühlschränke leer. Der Direktor eines Altersheims brach vor uns in Tränen aus: "Wir sind noch hier, wir bemühen uns", sagte er, "aber wir können die Menschen nur mit Worten behandeln."

Es fehlt an allem, an Putzmitteln, Seife, Windeln. Wenn es keine Windeln gibt, leben und schlafen tausende Menschen in Altersheimen, Waisenhäusern und Behinderteneinrichtungen in ihren Exkrementen. Wir haben mehr als 10.000 Stück bestellt, aber das wird nicht ausreichen, es werden Millionen gebraucht.

Die andauernden Kämpfe haben schwere psychische Auswirkungen auf die Menschen beiderseits der Frontlinie. Kürzlich habe ich eine Stadt besucht, die 500 Meter von der Front entfernt ist und mehrmals unter Granatenbeschuss stand. Häuser sind zerstört, die Elektrizität ist unterbrochen, die Menschen sind traumatisiert. Der Oberarzt des Krankenhauses bat uns um Hilfe für die Mitarbeiter, die derart unter Stress stehen, dass sie keine Patienten mehr versorgen können. Wir haben ein Team von Psychologen hingeschickt und hoffen, die Unterstützung weiter ausweiten zu können.

Manche Ärzte gehen jeden Tag mehr als eine Stunde zu Fuß in die Arbeit, weil sie kein Geld für die Fahrkarte haben. Sie arbeiten unentgeltlich; seit mehr als sechs Monaten haben sie ihr Gehalt nicht bekommen. Das System wird nur noch durch den Einsatz und das Engagement der Bevölkerung und des medizinischen Personals aufrechterhalten.

Die Solidarität ist beeindruckend, aber die Menschen halten sich mehr schlecht als recht aufrecht. Wenn es so weiter geht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie zusammenbrechen.

Die Menschen hier fühlen sich verlassen. Sie sind dankbar für unsere Hilfe, aber wo immer wir hingehen, fragen sie uns: "Wo sind alle? Wo sind die Journalisten? Wo ist die internationale Gemeinschaft? Wir sterben hier."