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Nie wieder Auschwitz! Erinnerung als Auftrag

Von Kathrin Bachleitner

Gastkommentare
© privat

Die Vergangenheit darf nicht verdrängt und auch nicht bewältigt, sondern muss aufgearbeitet werden.


Eines Tages, als Urgroßvater von der Front im heutigen Baltikum zum Urlaub nach Hause kam, sagte er zu Frau und Tochter: "Wir werden den Krieg nicht gewinnen." Diese reagierten verängstigt und ungläubig. "Wie kannst du so etwas nur sagen?", herrschten sie ihn an. "Ich habe gesehen, wie Menschen wie Vieh auf Waggons geladen wurden. Wer so etwas zulässt, kann niemals das Recht auf seiner Seite haben." Die Züge, die Urgroßvater sah, gingen nach Auschwitz-Birkenau. Man schrieb das Jahr 1943.

Was damals sich als vage Vermutung ankündigte, ist heute unbestritten das Geschehnis des 20. Jahrhunderts, das nicht nur die Zivilisation, sondern auch die menschliche Vorstellungskraft an seine Grenzen gebracht, ja sogar Erinnerung selbst neu definiert hat. "Wer Erinnerung sagt, sagt auch Shoah", hat der berühmte Gedächtnisforscher Pierre Nora einmal geschrieben. "Wer Shoah sagt, sagt auch Auschwitz", könnte man unmittelbar daran anschließen. Das Vernichtungslager im heutigen Polen ist und bleibt der Ausdruck für das unvorstellbar Grausame. Man konnte und durfte es nicht glauben, solange man noch irgendwie Mensch war nach diesem Krieg. Dennoch hatten die Nachfolgestaaten des Nationalsozialistischen Regimes, in erster Linie Deutschland, aber eben auch Österreich, die kollektive Verantwortung, sich an das zu erinnern, dass immerhin in ihrem Namen verbrochen wurde: Das Unbeschreibliche, das nun schon seit der Befreiung vor genau 70 Jahren mit einem einzigen Wort verbunden ist: Auschwitz.

Haben Staaten bis dahin hauptsächlich die heroischen Seiten in ihrem kollektiven Gedächtnis zelebriert, stellte sich nun die Frage, wie man eine derartig schamvolle Vergangenheit in die eigene, nationale Identität integrieren konnte. In diesem Fall war klar, dass der erinnerte Inhalt keinerlei Linderung dieser Schuld bringen kann, wie auch immer man die Tatsachen drehen mochte. Die Gesellschaft war erstmals gezwungen sich auf das "Wie" des Erinnerns zu konzentrieren.

Die Politik mit der Vergangenheit vollzog somit eine Abkehr von der herkömmlichen Frage nach der Repräsentation der Erinnerung nach Außen, hin zu der Frage des Umgangs mit der Vergangenheit. Vergessen, Verdrängen und Verleugnen war der österreichische Weg, nicht zuletzt begünstig durch das diplomatische Geschick seiner Politiker, sowie durch die Lage der Alliierten und die spezifische Situation in den Anfängen des Kalten Krieges. Aber die Geschichte der Zweiten Republik hat gezeigt, dass die Vergangenheit einen doch immer einholt: Spätestens seit Kurt Waldheims konstatierter "Pflichterfüllung" ließ sich nicht mehr verbergen, was unübersehbar war: Unmenschliches kann niemals Pflicht sein. Vergessen ist nur dann das Gegenteil von Erinnern, wenn es unbewusst geschieht: Die Verantwortung für das, was in unseren Ländern geschehen ist und nie wieder geschehen soll, bleibt. Die Vergangenheit darf nicht verdrängt und auch nicht bewältigt, sondern muss aufgearbeitet werden. Das hat nicht zuletzt Nachkriegsdeutschland klar unter Beweis gestellt.

Jedoch, nicht nur wer vergisst und verdrängt, macht sich indirekt schuldig, sondern auch diejenigen unter uns, die gar nichts mehr darüber wissen. Auschwitz muss immer an den Horror gebunden sein, den es verursacht hat. Erinnern bedeutet aber nicht nur ein Wissen darüber "wie es war", sondern schließt den Auftrag des Lernens für die Zukunft mit ein. Bundeskanzlerin Merkel hat bei der Gedenkfeier in Berlin an genau diesen Auftrag erinnert: "Auschwitz fordert uns täglich heraus, unser Miteinander nach Maßstäben der Menschlichkeit zu gestalten." Die Lehren aus Auschwitz müssen daher letztendlich auf das hinauslaufen, was die Europäische Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Kern ausmacht: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Menschenwürde. Die Geschehnisse unserer Zeit, wie die Anschläge in Paris erst kürzlich klar gezeigt haben, bieten den nachfolgenden Generationen beständig Gelegenheit, diesen Auftrag in die Tat umzusetzen - jeden Tag und an jedem Ort. Wenn es also eine "Pflicht" tatsächlich gibt, dann diese, um "Auschwitz" zu wissen und nach dem kategorischen Imperativ des "Nie Wieder" zu handeln. 

Kathrin Bachleitner ist Politikwissenschafterin an der Universität Oxford.