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Glauben Sie an Reformen?

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien.
© Daniel Novotny

Von der Entleerung einer zentralen Kategorie.


Glauben Sie noch an Reformen?

Das ist keine absurde Formulierung. Reformen mögen etwas Pragmatisches sein, vielleicht der Inbegriff von Pragmatik in der Politik - dennoch muss dieser Pragmatik ein Glaube zugrunde liegen: der Glaube an die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Ö1 hat "Reform" zum Wort dieser Woche gewählt. Ob Griechenland, Steuer oder Matura - überall Reformen. Tatsächlich könnte es das Wort ganz vieler Wochen sein. Denn wir haben eine Inflation an Reformen und eine Inflation an Reformdiskursen. Das bedeutet - eine ständige Beteuerung der Reformierbarkeit von allem, die eine Reformbereitschaft von allen fordert.

Wir müssen alle unser eigenes Leben ständig reformieren, verändern, verbessern wie die Gesellschaft als Ganzes. Es gibt also eine anhaltende Bewegung, die uns ebenso vorgegeben wie abverlangt wird. Und dennoch kommt das Gefühl von Stillstand, von Bewegung als Stillstand auf.

Vielleicht rührt dieses Gefühl ja von den endlosen Großbaustellen - etwa die Umwelt oder die Finanzkrise. Diese verwandeln sich langsam in unlösbare Reformmonster. Alle gesellschaftlich sensiblen Bereiche erfahren eine Reform-Dauerbewirtschaftung: die Bildung (wie viele Bildungsreformen hatten wir schon?), die Familie, die Frauen, die Umverteilung. Aber das Vertrauen in die Reformierbarkeit wächst nicht proportional zur Menge an Reformen. Ganz im Gegenteil. Durch ihre Überstrapazierung entleert sich diese zentrale Kategorie der Demokratie. Ihre Inflation befördert den Unglauben.

Früher bedeutete Reform Veränderung, Umgestaltung. Heute scheint Reform die Chiffre dafür, dass alles gleich bleibt. Der Begriff hat also unleugbar eine Bedeutungsverschiebung erfahren: von einer positiven zu einer negativen Konnotierung.

Der positive Glaube an Reformen war Glaube an die Veränderbarkeit, an die Möglichkeit der Transformation der Gesellschaft.

Er war also Glaube ans politische Handeln. Es ist ja nicht so, dass Politiker heute nicht handeln würden. Aber dieses Tun scheint viel zu oft ein Interessehandeln und kein Zielhandeln zu sein. Natürlich hat es Politik immer mit dem Aushandeln von Interessen zu tun, aber die gesellschaftlichen Ziele sollten dabei sichtbar bleiben.

Was uns abhanden gekommen ist, das sind die gesellschaftlichen Ziele. Oder zumindest der Glaube an diese. Das ist kein wirklich origineller Befund. In Bezug auf Reformen aller Art ist dies aber fatal. Denn echte Reformen müssen deutlich von einer Zielvorstellung - wie Gerechtigkeit oder Gleichheit - bestimmt sein. Deutlich heißt, dass man sie erkennen muss.

Früher war der Gegenbegriff der Reform die Revolution - Maximalforderung gegen Annäherung ans Ziel, radikale Umkrempelung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegen deren schrittweise Veränderung. Dabei ging es aber noch um tatsächliche Veränderungen. Solche, also gelungene Reformen werden heute wie kollektive Mythen behandelt, die immer wieder erzählt werden - wie etwa das Frauenwahlrecht. Aber diese liegen, wie das bei Mythen so ist, immer weiter zurück. Der Mythos der Revolution wurde schon längst begraben. Erleben wir jetzt das Ende vom Mythos der Reform?