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Wenn das Gefährliche harmlos und das Böse gut wird

Von Adrian Lobe

Gastkommentare
Adrian Lobe: Der freie Journalist studiert Politik- und Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg und ist für verschiedene Zeitungen im deutschsprachigen Raum tätig.

Der Nahost-Konflikt kann nicht mehr isoliert betrachtet werden. Es sind Nahost-Konflikte, deren militärische und moralische Grenzen nicht mehr klar zu ziehen sind.


Redet eigentlich noch jemand von Gaza? Seit sich die radikale Hamas und Israel auf einen Waffenstillstand einigten, ist der Nahost-Konflikt in den Hintergrund getreten. Kaum jemand berichtet mehr über die Trümmerfelder in Gaza. Stattdessen bestimmt der IS die Schlagzeilen, der mit Folter, Entführungen und Hinrichtungen die Welt in Angst und Schrecken versetzt.

Wie kann es sein, dass eine Mörderbande von ein paar tausend Mann quasi-staatliche Funktionen ausübt? Der Westen ringt um Erklärungen - und hat keine Antworten parat. Das liegt daran, dass sich die Koordinaten im Nahen und Mittleren Osten in den Jahren nach der US-Invasion im Irak fundamental verschoben haben. Und dass das öffentliche Bewusstsein ein Kurzzeitgedächtnis hat.

Man muss sich den Gaza-Krieg vom vorigen Sommer nochmals vor Augen halten: Zum ersten Mal führten Israels Verteidigungsstreitkräfte einen Krieg, den die arabische Welt unterstützte. So viel Eintracht war selten. Demonstrationen gegen Israels Krieg fanden nicht auf den Straßen der arabischen Welt statt, sondern in den Hauptstädten des Westens. Dann folgte die Feuerpause, es kam der IS-Terror und damit eine völlige Neubewertung der Lage.

Die Hamas-Extremisten, die einst die moderate Fatah aus dem Gaza-Streifen verdrängten, stellen sich neben den fanatisierten IS-Kriegern nun selbst als gemäßigt heraus.

Syriens Machthaber Bashar al-Assad, der Giftgas gegen das eigene Volk einsetzte und den Großbritanniens Premier David Cameron noch im Vorjahr am liebsten aus dem Amt hätte bomben lassen, wurde auf einmal zum strategischen Partner des Westens gegen den IS. Offiziell wird das dementiert, denn Seite an Seite mit Assad zu kämpfen, ist ein militärisches No-Go. Doch auch hier hat sich die realpolitische Devise durchgesetzt: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

Die Al-Nusra-Front, deren schwarze Flaggen und finster dreinblickende Milizionäre als Drohbilder durch die Presse geisterten, kämpft nicht nur gegen Assad, sondern auch gegen den IS - und damit faktisch auf der Seite der Anti-IS-Koalition. Die Al-Nusra-Front sei zwar radikal, aber nicht so mordlüstern wie der IS, heißt es. Selbst die Al-Kaida-Terroristen wirken neben dem monströsen IS wie Kleinkriminelle.

Nichts scheint mehr so zu sein, wie es war. Wenn das Gefährliche harmlos und das Böse plötzlich gut wird, sind wir mittendrin in dieser verrückten Zeit. Warum wurden kurdische Perschmerga-Kämpfer im Irak mit Waffen ausgestattet, die syrische YPG aber nicht? Waren die Kurden im kollektiven Gedächtnis nicht als "gefährlich" abgespeichert? Während der IS unschuldige Zivilisten exekutiert, gibt es in Saudi-Arabien öffentliche Hinrichtungen. Auch wenn die Herrscherfamilie den IS bekämpft, sind gewisse Gemeinsamkeiten in religiösen Fragen nicht zu leugnen. Mit dem wahhabitischen Königreich, in dem die ideologische Saat des IS auf fruchtbaren Boden fällt, macht der Westen Waffengeschäfte. Und die Menschen in Gaza? Sie leiden weiter.