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Die 100 Jahre des Musa Dagh

Von Thomas Schmidinger

Gastkommentare
Thomas Schmidinger ist Politikwissenschaftler und Lektor an der Universität Wien und der Fachhochschule Vorarlberg sowie Mitbegründer des in der Deradikalisierungsarbeit tätigen Netzwerks Sozialer Zusammenhalt (www.derad.at).

Auch 100 Jahre nach dem Genozid von 1915 kämpfen Assyrer und Armenier wieder um ihr Überleben.


100 Jahre ist es her, dass die jungtürkische Regierung damit begann, die Armenier im verbliebenen Osmanischen Reich in die Wüsten Syriens zu deportieren und zu vernichten. Mit der Verhaftung und Verschleppung der Intellektuellen am 24. April 1915 wurden die Gemeinden enthauptet. Der folgende Genozid, der auch die aramäischsprachigen Assyrer traf, wurde bis heute vom Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, der Türkei, nicht anerkannt. Auch wenn sich in jüngster Zeit die selbstkritischen Stimmen unter türkischen Intellektuellen mehren: Die offizielle Türkei leugnet die historischen Tatsachen bis heute und beschimpft jene, die sie daran erinnern.

Einer Versöhnung steht diese starre Haltung bis heute im Weg. Wer die verbliebenen Reste der armenischen Gemeinden im Osten der Türkei besucht, trifft nur noch in Mardin eine marginalisierte armenisch-katholische Restgemeinde an. Während das Rathaus der Stadt mittlerweile viersprachig beschriftet ist und damit auch an den kurdischen, arabischen und syro-aramäischen Charakter der Stadt erinnert wird, fehlt das Armenische weiterhin. Armenisch-apostolische Kirchen stehen noch in Diyarbakir und Derik. Die letzten dort lebenden Armenier sind ein altes Ehepaar in Derik und ein alter Mann in Diyarbakir, dessen Frau kürzlich verstorben ist. Von den Dörfern um den von Franz Werfel beschriebenen Musa Dagh gibt es nur noch eines. 2009 konnte ich in Vakifli noch mit Avedis Demirci, dem letzten damals noch lebenden Überlebenden des Musa Daghs, sprechen.

Viele Überlebende fanden nach 1915 in Syrien und im Irak eine neue Heimat. Genau 100 Jahre später sind viele wieder auf der Flucht. Nur allzu oft haben bei meinen letzten Besuchen armenische und assyrische Christen im Irak und in Syrien auf die Parallelen der genozidalen Vernichtungspolitik des IS 2015 und der Verbrechen der jungtürkischen Regierung 1915 hingewiesen. Und auch auf die fehlende Unterstützung aus Europa. In Qamishli, Dohuk oder Arbil wurde ich gefragt, ob wir erneut dabei zusehen würden, wenn Armenier und Assyrer von fanatisierten Banden vertrieben und getötet und Kirchen zerstört werden.

100 Jahre nach dem Genozid beschimpft der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Papst, wenn er an den Genozid erinnert, und wirft dem EU-Parlament "religiösen Fanatismus" vor, wenn dieses die Türkei auffordert, die historischen Fakten zur Kenntnis zu nehmen. Gerade weil sich in der türkischen und vor allem in der kurdischen Zivilgesellschaft zuletzt diesbezüglich einiges getan hat, schlägt die offizielle Türkei umso wütender um sich.

Ohne eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte kehrt das Verdrängte jedoch wieder. Die Türkei sehen viele Armenier und Assyrer in Syrien und im Irak als Schutzmacht der sunnitischen Dschihadisten. Die Traumatisierung durch die Geschichte wirkt bis heute und treibt in Syrien viele Armenier aus Angst in die Arme des regierenden Baath-Regimes. Währenddessen kämpfen viele Assyrer an der Seite der kurdischen Volksverteidigungseinheiten gegen den IS und versuchen so ihre Existenz zu sichern. Auch 100 Jahre nach dem Genozid von 1915 kämpfen Assyrer und Armenier wieder um ihr Überleben.