Zum Hauptinhalt springen

Genozide erster, Genozide zweiter Klasse?

Von Gunther Neumann

Gastkommentare
Gunther Neumann ist Historiker und war Stellvertretender Direktor der OSZE. Heute ist er unter anderem Vizepräsident des Kelman Institute for Interactive Conflict Transformation. Eine längere Version dieses Kommentars ist in der "Neuen Zürcher Zeitung" erschienen (www.nzz.ch/meinung).

Europäisches Erinnern und selektives Vergessen von Völkermorden.


Jahrhunderte sind fiktive Zäsuren: Historiker sprechen gerne vom "kurzen 20. Jahrhundert" 1914 bis 1989. Der Völkermord in Bosnien fällt dann ebenso wenig hinein wie jener in Ruanda. Auch nicht ein Genozid im heutigen Namibia 1904 und 1908. "Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero (. . .) erschossen", hieß es im Befehl des Oberbefehlshabers Lothar von Trotha im Herbst 1904. Wie Armenier 1915 wurden die Hereros in die Wüste getrieben und zwei Drittel des Volkes ausgelöscht.

Bonn und Berlin verneinten stets einen Genozid, mit dem Hinweis, die UNO-Völkermord-Konvention gelte nicht rückwirkend. Das mutet nach Spitzfindigkeit an - die Vereinten Nationen bezogen sich 1948 ausdrücklich auf die Völkermorde an den Armeniern und den Hereros sowie auf den Holocaust.

Österreich ohne koloniale Vergangenheit scheint fein raus. Doch in der Armenier-Frage war Wien 1915 wie Berlin ein willfähriger und schweigsamer Verbündeter der Türkei. Gerade Deutschland kann man nicht Geschichtsblindheit vorwerfen - doch andere historische Ereignisse stehen im Vordergrund.

Massenverbrechen füllen Schwarzbücher des Kolonialismus, etwa jene Belgiens im Kongo, Frankreichs in Algerien oder Kamerun um 1960, Russlands in seinem Machtbereich, Japans in Fernost. Schon der Ausdruck des Bedauerns fällt schwer. Unterschiede zwischen Massenmord und Genozid klingen nach makabrer Wortklauberei. War die Herrschaft der Roten Khmer ein Autogenozid? Wie ist der Holodomor, die "Liquidierung der Kulaken als Klasse", mit Millionen Toten zu bewerten, wie die Rolle der Kirche bei der Conquista Südamerikas? Was sind "unglückliche Ereignisse", was "militärische Notwendigkeiten"? Wie ist es bei 100.000 Toten nach einer Atombombe auf eine Stadt? Ist die Zahl der Opfer entscheidend? Die Absicht der Täter? Hereros haben keine weltweite Diaspora, keine sprachgewaltige Lobby. Bei der zurückhaltenden Anerkennung ist auch die Befürchtung einer Kaskade von Reparationsforderungen im Spiel.

Doch es geht eben nicht nur um finanzielle Wiedergutmachung - ein ohnehin unpassender Begriff. Das Wort "Völkermord" kommt nie leicht über die eigenen Lippen. Dass aus Opfern oft Täter werden, ist nicht neu, ob im Nahen Osten, in Ruanda oder in Nagorny Karabach. Die Gründe sind bekannt und überraschen dennoch immer wieder: Fanatismus aus Komplexen, Aufhetzung, Rache oder schlicht Angst.

Selbst unsere Kinder werden noch mit einer Vielzahl unerquicklicher Jahrhundert-Jubiläen konfrontiert sein, zu denen es weniger zu feiern als nachzudenken geben wird. "Die sich nicht an die Vergangenheit erinnern, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen" - der Ausspruch des Philosophen George Santayana wurde zum Allgemeinplatz. Dabei geht es weniger um einen Wettbewerb von Vorwürfen und Selbstbezichtigungen als um Anerkennung. Das Ungeheuerliche schamvoll mit einem Namen zu belegen, ist für das schlechte Gewissen eine Hürde, aber manchmal reinigend wie eine Beichte. Es macht uns bereit zum Dialog mit Nachkommen der Toten und Traumatisierten. Der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka spricht vom "Torbogen der Heilung", aus Wahrheit, Verantwortung - und dann Versöhnung.