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Die Bilanz von Erdogans Krieg

Von Hülya Tektas

Gastkommentare
Hülya Tektas ist Soziologin und Journalistin in Wien. Sie ist Kurdin.

Die größten Verlierer des Konflikts zwischen dem türkischen Staat und der PKK sind wieder einmal überwiegend kurdische Zivilisten.


Tagelang isolierten türkische Soldaten die Stadt Yüksekova im Dreieck der türkisch-irakisch-iranischen Grenze. Davor war es Varto im Osten der Türkei, aktuell ist es Cizre. In all diesen Städten erzielte die prokurdische HDP bei den Parlamentswahlen am 7. Juli mehr als 90 Prozent.

Seit einer Woche ist Cizre von der Außenwelt abgeschnitten. In den menschenleeren Straßen schießen Scharfschützen von Panzern aus auf die Häuser. Die Leiche einer Zwölfjährigen lag wegen der Ausgangssperre drei Tage lang im Kühlschrank, ehe sie begraben werden konnte. Der Zustand der Verwundeten und Kranken sei kritisch, da sie nicht ins Spital gebracht werden dürften, berichtet ein HDP-Parlamentarier, dem die Einreise in seine Heimatstadt Cizre verwehrt wurde.

Cizre ist immer wieder Schauplatz der Auseinandersetzungen. Die Bewohner leisten seit dem ersten großen kurdischen Volksaufstand 1993 Widerstand und werden immer wieder Ziel staatlicher Willkür. Laut der Bürgermeisterin hat der Bürgerkrieg in Cizre bereits begonnen.

Die Hintergründe des PKK-Anschlags auf den Militärstützpunkt in Daglica in Yüksekova sind nach wie vor unklar. Bei einem weiteren Anschlag starben 14 Soldaten. Die Ultranationalisten reagierten und steckten neben der Zentrale ein weiteres HDP-Büro in Brand. Täglich werden Angriffe auf HDP-Büros, kurdische Einrichtungen und Privatpersonen gemeldet. Ein Journalist der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur AA (deren Meldungen weltweit übernommen werden), rief sogar zu Massakern auf: Jeder, "ob jung, alt, schwanger oder Kind", sollte getötet werden, "um die Soldaten zu rächen".

Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD starben in den vergangenen 40 Tagen 47 Zivilisten, 92 Soldaten und Polizisten sowie 38 PKK-Guerillas. Über 15 Städte wurde der Ausnahmezustand verhängt. Der Krieg von Präsident Recep Tayyip Erdogan gegen den Terror umfasst auch die Medien. Journalisten wurden festgenommen und wegen Terrorpropaganda angeklagt, Websites regierungskritischer Medien wurden gesperrt. Erdogan-kritischen Köpfen droht eine Kündigungswelle quer durch die türkischen Medien.

Den wahren Grund für seinen Krieg verriet Erdogan am Sonntag in einem Live-Interview: "Wenn eine Partei 400 Sitze bei den Wahlen bekommen und die erforderliche Mehrheit im Parlament für eine Verfassungsänderung erreicht hätte, wäre die Lage anders."

Ob man beim derzeitigen Zustand der Türkei, wo die Prinzipien des Rechtsstaats außer Kraft sind, bei den Neuwahlen am 1. Oktober von demokratischen Wahlen sprechen kann, ist fraglich. In den vergangenen 30 Jahren haben alle heute im Parlament vertretenen Parteien - mit Ausnahme der HDP - einmal als Regierungspartei erfolglos versucht, den Kurdenkonflikt zu lösen. Erdogan und die AKP verdanken ihren Erfolg zum Teil auch ihrer Kurdenpolitik und dem Versprechen, den Konflikt zu beenden. Die AKP verlor durch ihre aggressive und gewalttägige Strategie gegen die Kurden die Stimmen der gemäßigten Türken und Kurden. Drei Jahrzehnte lang dauerte der Kurdenkonflikt, bevor der türkische Staat bereit war, über den Frieden zu verhandeln. 40 Tage genügten nun, um das Land erneut ins Chaos zu stürzen und die Menschen gegeneinander aufzuhetzen.