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Das "Prinzip Österreich"

Von Manfried Welan

Gastkommentare

In den Nachkriegsjahren, als Österreich nicht souverän war, machte die große Koalition Sinn. Die mit der Realverfassung, mit Koalition und Sozialpartnerschaft verbundene Kultur des Aushandelns, der Kompromiss- und Proporzpolitik überspielte die Problematik unseres Institutionengefüges. Paradoxes wurde als normal, als typisch österreichisch empfunden.

Die Bevölkerung war dankbar, dass sie überhaupt wählen durfte. Dankbar war sie auch, dass die früheren Bürgerkriegs- und Klassenparteien zu einer großen Zusammenarbeit zusammengefunden haben. Es war ja eine ihrer großen Leistungen, dass sie zur Integration und zur Eigenstaatlichkeit Österreichs führten. Aber es wurde auch immer wieder das Unbehagen laut: Das Versicherungssystem auf Gegenseitigkeit funktionierte auf Dauer immer weniger. Nach der Wahl änderten sich die Proportionen, der Proporz blieb. Die Bundespräsidenten leisteten der Realverfassung Rückendeckung. Sie wurden zu einer ihrer Säulen und fungierten auch als Hüter vor dem Dritten Lager. Hätte man etwas anders machen sollen?

Schon 1955 hätte ein Mehrheitswahlrecht eingeführt werden können. Mitte der 70er Jahre wäre die Zeit wohl überreif gewesen. Rot und Schwarz hatten damals zusammen 90 Prozent der Stimmen, je 700.000 Mitglieder. Es gab daher wichtige Plädoyers für ein Mehrheitswahlrecht.

Auch heute gibt es wichtige Vertreter eines mehrheitsfördernden Wahlrechts. Das Proporzwahlrecht und die gesellschaftliche Entwicklung haben zum Vielparteiensystem geführt. Die alte Koalition ist kleiner geworden, aber sie blieb. Wäre mit einem Mehrheitswahlrecht in unser System mehr Wechsel und Dynamik gekommen?

Es gibt noch andere Alternativen zum jetzigen System. Manche können sich ein Regierungssystem nach Schweizer Vorbild vorstellen.

Dort wird seit mehr als 50 Jahren eine Formel gelebt: Je zwei Vertreter von drei Parteien und ein Vertreter einer Partei sitzen in der Regierung. Die Führer sitzen woanders. Aber bei uns wollen Parteiführer nicht im Parlament bleiben, sondern in die Regierung. Außerdem braucht ein solches System eine starke direkte Demokratie als Gegengewicht. Beides wäre in Österreich schwer durchsetzbar.

Vor Jahrzehnten diskutierte man in der ÖVP über eine Regierung, in der das Wählervolk durch seine wichtigsten Repräsentanten vertreten sein sollte. Der Bundespräsident hätte nach der Nationalratswahl auf die verhältnismäßige Vertretung der Parteien Rücksicht zu nehmen und dementsprechend die Regierung zusammenzusetzen.

Eine weitere alternative Möglichkeit wäre eine Präferenz für Minderheitsregierungen. Aber bei uns besteht keine solche Tradition. Die Hinweise darauf, was eine Minderheitsregierung alles machen kann, haben keine Wirkung gezeigt.

Schließlich könnte der Bundespräsident seinen Rollenverzicht aufgeben und von einem "Passivkönig" zum "Aktivkönig" werden.

Sympathischer wäre eine Rückkehr zur Verfassung 1920. Das Legitimationsprinzip der Regierung war damals ein rein parlamentarisches. Die Regierung wurde vom Nationalrat gewählt und vom Bundespräsidenten angelobt.

Diese Parlamentarisierung der Regierungsbildung wäre in gewissem Sinn auch eine Europäisierung; aber sie bedarf einer Verfassungsänderung. Eine Gesamtänderung wäre sie nicht, sondern eine Erfüllung der Verheißung der Unabhängigkeitserklärung 1945.

Dr. Manfried Welan,
per E-Mail