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Über die "Refeudalisierung"

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien.
© Daniel Novotny

Warum bringt die zunehmende Pauperisierung keine linken Antworten hervor?


In westlichen Gesellschaften lassen sich zwei Tendenzen ausmachen. Unklar ist, wie sie zusammenhängen. Da gibt es zum einen das Voranschreiten der extremen Rechten - ein Voranschreiten, das etwa in Frankreich nur unter Aufbietung aller Reserven noch aufgeschoben werden konnte. Zum anderen verzeichnen wir das Aufgehen der Schere zwischen Arm und Reich in ungeahnte Dimensionen.

Nun könnte man meinen, Letzteres würde eher zu einer Stärkung der Gewerkschaften, zu einer Stärkung linker Parteien oder Bewegungen führen - und eben nicht zu einem Aufschwung der extremen Rechten. Der deutsche Soziologe Sighard Neckel hat dieser Tage in Wien eine Gesellschaftsanalyse vorgestellt, die das erstaunliche Verhältnis dieser zwei Tendenzen in ein neues Licht zu rücken vermag.

Neckel skizziert mehrere unterschiedliche Entwicklungen: Es ist dies zum einen eine "Krise der Öffentlichkeit, die nicht mehr im Sinne einer bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern vielmehr wie eine privatisierte Öffentlichkeit funktioniere. Als solche diene sie der "sichtbaren Repräsentation von Herrschaft", dem Auftreten der wirtschaftlichen Macht von Einzelnen. Dazu kommt das, was Neckel als "oligarchischen Kapitalismus" bezeichnet, eben eine extrem scharfe soziale Ungleichheit. All diese Entwicklungen fasst er im Begriff der Refeudalisierung zusammen. Grundlage dieser Refeudalisierung ist das Brüchigwerden dessen, was die bürgerliche Gesellschaftsform ausmacht: des Vertragsverhältnisses. Refeudalisierung bedeutet demnach, dass immer mehr Menschen sich jenseits des Vertraglichen befinden, jenseits der geregelten Form der Kooperation. Immer mehr Menschen werden aus dem Status des Rechtssubjekts entlassen. Am oberen Ende der gesellschaftlichen Pyramide findet sich die Schicht der Oligarchen, die zunehmend einen Platz über dem Recht einnimmt. Am unteren Ende finden sich immer mehr Prekarisierte, die unterhalb des Rechts rutschen (bis hin zu neuen "Sklaverei" - etwa der Dienstboten).

All diese Entwicklungen gemeinsam ergeben das, was Neckel als Refeudalisierung bezeichnet - eine Erosion der bürgerlichen Welt, die auf der Öffentlichkeit, dem Vertrag und dem Rechtssubjekt beruhte. Ein Kapitalismus ohne Bürgerlichkeit also, eine Gesellschaftsordnung jenseits von Verträgen, Sicherheiten und Rechten. Dieses Konzept gibt auch eine schlüssige Antwort auf unsere Eingangsfrage: Warum bringt eine zunehmende Pauperisierung keine linken Antworten hervor? Weil die Linke, vor allem die Sozialdemokratie (aber auch moderate Konservative oder Liberale), auf der bürgerlichen Subjektivität beruhen. Weil sie eine Politikform sind, die wesentlich auf dem Modell des Vertrags beruht, der ausgehandelt wird und der des Rechtssubjekts bedarf. Deshalb stehen die alten Antworten heute auf verlorenem Posten. Sie sind keine Antworten die Fragen der Refeudalisierung.

Wie aber steht es mit der extremen Rechten? Ist sie eine Antwort auf die Refeudalisierung? Oder ist sie nicht vielmehr genau das, was diese Refeudalisierung noch vorantreibt? Ein Einspruch, der nicht jener des Rechtssubjekts, der nicht jener des bürgerlichen Vertragssubjekts ist - ein Einspruch gegen den bürgerlichen Gesellschaftsvertrag, der zunehmend weniger greift.