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Allah gewährt Barmherzigkeit nur "Rechtgläubigen"

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare
Clemens M. Hutter war Chef des Auslandsressorts bei den "Salzburger Nachrichten".

Riad und Teheran reißen mit ihrer riskanten Machtpolitik den Graben zwischen Sunniten und Schiiten weiter auf.


113 der 114 Suren im Koran beginnen mit "Barmherzigkeit", dem ersten der 99 schönsten Namen Allahs. Seine Barmherzigkeit verdienen nur "rechtgläubige" Muslime. Die von Saudi-Arabien angezettelte Krise hängt mit "Rechtgläubigkeit" zusammen: Nimr al-Nimr, Ayatollah der missachteten schiitischen Minderheit im sunnitischen Saudi-Arabien, wurde wegen Kritik am Königshaus und Aufrufs zu friedlichen Demonstrationen hingerichtet. Sofort drohte der schiitische Iran mit der "Rache der Hand Allahs". Muslimische Staaten ergriffen Partei für Riad oder Teheran, somit riss der 1400 Jahre alte Graben zwischen Sunniten und Schiiten weiter auf.

Die Saudis provozierten mit der Exekution den Rivalen Iran ganz bewusst, um ihren Führungsanspruch in Arabien zu unterstreichen. Denn der Iran hat mit dem internationalen Abkommen zum Verzicht auf Atomwaffen an Drohpotenzial in Nahost eingebüßt. Das lenkte auch von zwei politischen Schachzügen ab: Die arabisch-sunnitische Welt bemüht sich, die verbotene radikalislamische Moslembruderschaft als gewichtige Kraft gegen die Schiiten wiederzubeleben. Und Riad sucht behutsam Kontakt zu Israel, um eine außenpolitische Front einzusparen.

Teherans Empörung über al-Nimrs Hinrichtung wurde zurückgewiesen: "Unser Land praktiziert das islamische Scharia-Recht und verbittet sich jegliche Einmischung von außen in unser Rechtssystem."

Scharia nach wahhabitisch-fundamentalistischer Deutung in Saudi-Arabien ist Ausdruck der Sehnsucht nach der goldenen Frühzeit des Islam und Immunisierung gegen "Verwestlichung". Die absolutistische saudische Monarchie will verhindern, dass die technisch weit fortgeschrittene Verwestlichung die religiösen Dogmen gefährdet. Laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist die Scharia "inkompatibel mit den fundamentalen Prinzipien in der Demokratie".

Jüngst erntete Saudi-Arabien Lob, weil es den Frauen bei Kommunalwahlen erstmals das Wahlrecht gewährte. Von 865 Kandidatinnen schafften es rund fünf Prozent in die Gemeinderäte, die allerdings politisch nichts zu entscheiden haben. Wie auch in einem Land, das statt eines Parlaments nur eine "Beratende Versammlung" ohne jede legislative Kompetenz hat, die aus Mitgliedern besteht, die der König ernennt?

Männer dürfen Frauen schlagen, die nicht gehorchen; Frauen dürfen die Wohnung nur voll verschleiert und in Begleitung eines männlichen Verwandten verlassen und nicht Auto fahren (weil das vorgeblich die Eierstöcke schädigt); sie dürfen ohne Zustimmung des Vormunds keine Pässe beantragen oder verreisen. Bei Verstößen gegen die Scharia drohen barbarische "Hadd-Strafen" wie öffentliche Auspeitschung, Verstümmelung oder Hinrichtung. Wie alle Fundamentalisten beanspruchen die Saudis die Deutungsmacht über den Koran. Wer das kritisiert, gilt als "Ungläubiger" und Verräter Allahs - wie der Iran und alle Schiiten sowie umgekehrt ebenso die Sunniten. "Ungläubige" haben keinen Anspruch auf Allahs Barmherzigkeit.

Nun stecken die demokratischen Rechtstaaten in der Klemme: Sie brauchen saudisches Öl und müssen krasse Verstöße gegen elementare Rechte hinnehmen; wenn nicht, schwingt sich Saudi-Arabien zum "rechtgläubigen" Anführer aller terroristischen Dschihadisten auf.