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Das polnische Dilemma stürzt die EU in die nächste Sinnkrise

Von Andreas Raffeiner

Gastkommentare
Andreas Raffeiner ist im Geschichte-Doktorat studium in Innsbruck und arbeitet als freiberuflicher Redakteur, Rezensent und Referent in Bozen.

Es ist zu hoffen, dass der Dialog der EU-Kommission mit Polen bereits nach Einleitung der ersten Phase beendet wird. Alles andere wäre fatal.


"Noch ist Polen nicht verloren", so heißt es im ersten Satz der polnischen Nationalhymne. Die Glaubwürdigkeit der EU könnte verloren gehen, wenn die Rechtsstaatlichkeit eines Mitglieds bedroht ist und die EU neuerlich nicht reagiert.

Die aus freien Wahlen hervorgegangene polnische Regierung verletzt demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze und bringt staatliche Institutionen unter ihre Kontrolle. Ein neues Gesetz erlaubt ihr, das Leitungspersonal öffentlicher Sender auszutauschen. Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs müssen mit einer Zweidrittelmehrheit abgesegnet werden. Diese beiden Machtregularien Polens zeigen, wie defizitär und fragil die Architektur der EU ist.

Auch wenn die Flüchtlingsfrage beantwortet werden muss, ist die Säule der Rechtsstaatlichkeit Europas ein Fundament, das nicht bedroht werden darf. Wenn ein einzelnes Mitgliedsland sie in Frage stellt oder durch vorschnelles und hastiges Verabschieden diktatorisch anmutender Gesetze in Gefahr bringt, gefährdet es nicht nur die eigene Zukunft, sondern auch jene der EU als Friedensprojekt.

Es besteht Einigkeit darüber, dass durch die ungleiche Verfassungsgeschichte der EU-Länder nicht jede nationale Einschränkung des Rechtsstaatsprinzips die ganze EU bedroht. Fehlen der Wille oder die Befähigungen, die Unionswerte einzuhalten, muss sie aber aktiv werden.

Was ist in Polens Fall zu tun? Mit einem Vertragsverletzungsverfahren, das die Kommission beim EuGH einleiten kann, kann keineswegs auf EU-Werteverfehlungen durch einen Staat reagiert werden. Da denkt man eher an ein Sanktionsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags. Folglich kann der Rat auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des EU-Parlaments oder der EU-Kommission mit einer Vier-Fünftel-Mehrheit seiner Mitglieder nach Zustimmungen des EU-Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch ein EU-Land besteht. Der Rat hört vor einer solchen Feststellung das Land an und kann Empfehlungen aussprechen.

Sanktionen können nur einstimmig vom Rat beschlossen werden. Wegen dieser komplexen formalen Voraussetzungen braucht es andere unionsrechtliche Verfahren für eine frühe und durchgreifende Antwort, wenn EU-Werte verletzt werden. Im März 2014 schlug die Kommission einen "neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips" mit einem dreigeteilten Verfahren vor: Ein "strukturierter Dialog" zwischen Kommission und EU-Land soll zur genauen Bewertung der Lage führen. Stellt die Kommission eine Gefahr fest, gibt sie eine Empfehlung ab, wie diese binnen einer Frist abzuwenden wäre. In einer dritten Phase bewertet sie die Reaktion des Landes und leitet - falls sie immer noch eine Gefahr sieht - das Sanktionsverfahren gemäß Artikel 7 ein.

Am 13. Jänner leitete die Kommission den Rechtsstaatsmechanismus gegenüber Polen ein. Mitte März werden Polens Antworten näher geprüft. Reagiert Polen entsprechend, wird der Dialog eingestellt. Wenn nicht, wird die zweite Phase zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit eingeleitet. Es ist zu hoffen, dass der Dialog bereits nach Einleitung der ersten Phase beendet wird. Ansonsten ist nicht nur Polen, sondern auch die EU verloren.