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Die Völkerwanderung und die Lehren der Geschichte

Von Robert Schediwy

Gastkommentare
Robert Schediwy ist Sozialwissenschafter und Kulturpublizist.

Warum die Unterbringung von Flüchtlingen in möglichst kleinen Gruppen "mit Familienanschluss" besser sein dürfte als in Großeinrichtungen.


Im Zusammenhang mit den aktuellen Flüchtlingsbewegungen wird immer wieder, mit meist resignativem Unterton, das Wort Völkerwanderung gebraucht. Der Vergleich liegt nahe, allerdings sind gewisse markante Unterschiede zu beachten. Von besonderem Interesse erscheint dabei die Frage, wieso sich das Oströmische oder Byzantinische Reich etliche Jahrhunderte länger hielt als das Weströmische, das in den Germanenstürmen des 5. und
6. Jahrhunderts ruhmlos unterging.

Herbert Hunger, der legendäre Wiener Ordinarius für Byzantinistik, legte bereits in den 1980ern Wert auf die Feststellung der Parallelen zwischen dem Oströmischen Reich und dem Zustand der heutigen Welt. In beiden Fällen handle es sich um "hochentwickelte Zivilisationen mit verfeinertem Luxuskonsum, aber einer rückläufigen Schätzung wahrer kultureller Werte". Auffällig sei ein starkes Gefälle zwischen Reich und Arm, die staatliche Ordnung tendiere zur Auflösung, es verbreite sich der ebenso ängstliche wie erfolglose Ruf nach Sicherheit.

In Anlehnung an die "Anekdota" des Prokopios von Caesarea war Hungers Sicht auf das oströmische Kaiserreichs im 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung düster. Alles habe mit dem Nonkonformismus einer Gruppe junger Leute begonnen, die sich durch lange Bärte, schulterlange Haare und auffallende Kleidung im "Hunnenlook" ein spezielles Gepräge gaben. Diese Gruppen unternahmen nächtliche Überfälle auf friedliche Bürger. Da die Staatsgewalt kaum etwas gegen diese Übergriffe unternahm, verstärkte sich der Terror wahllos. Ausgeübte Gewalt blieb ungeahndet, Richter wurden bedroht und scheuten sich, Bandenmitglieder zu verurteilen. Zum Teil aber gab sich der Terrorismus auch sozial.

Hunger war sich freilich darüber im Klaren, dass der Autor der "Anekdota" von "glühendem Hass" auf den Emporkömmling Kaiser Justinian und seine Frau Theodora, angeblich eine frühere Prostituierte, erfüllt war. Im Rückblick bestechen seine Argumente einer "verblüffenden Ähnlichkeit" zur aktuellen Situation daher vielleicht weniger, als sie es bei der Erstveröffentlichung seines Textes im Jahr 1984 vermochten.

Beachtenswerter und für die Gegenwart relevanter scheint freilich der Hinweis eines anderen großen Byzantinisten, nämlich Georg Ostrogorskys. Dieser weist in seiner "Geschichte des byzantinischen Staates" darauf hin, dass zwar Zuwanderer, nämlich Germanen, im spätantiken Ostrom wie in Westrom jahrhundertelang eine bedeutende Rolle im Militärwesen spielten.

Im Westen allerdings wurden die germanischen Truppen en bloc als geschlossene Verbände mit eigenen Führern angeworben, im Osten bald nur noch als individuelle Söldner mit kaiserlichen Offizieren. Letzteres förderte die Integration, Ersteres die Gefahr der Konfrontation und putschistischer Aktionen.

In ähnlicher Weise ist anzunehmen, dass die Unterbringung von Flüchtlingen in möglichst kleinen Gruppen "mit Familienanschluss" geringere Probleme schafft als die längerfristige Konzentration hunderter junger Männer in Großeinrichtungen wie ehemaligen Kasernen oder industriellen Anlagen. 9 Flüchtlinge in einem Dorf mit 100 Einwohnern sind sicher eine leichter zu bewältigende Aufgabe als 900 in einem Bezirk mit 10.000 Einwohnern.