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Kein terroristisches Zeitalter in Europa

Von Florian Hartleb

Gastkommentare
Florian Hartleb ist Politikberater, Mitarbeiter der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und lehrt auch an mehreren Universitäten.

Angesichts vergangener Terrorwellen sollten wir uns jetzt nach Paris und Brüssel vor Dramatisierungen hüten - auch zum Selbstschutz.


Leben wir mitten in einem Zeitalter des Terrorismus? Aus subjektiver Hinsicht ist die Terrorgefahr nach den barbarischen Attacken von Paris und Brüssel allgegenwärtig geworden. Vor allem in westeuropäischen Hauptstädten ist die Angst zum Greifen nahe. Es gehört auch zur Strategie der Terroristen - Drahtzieher scheinen Zellen des IS zu sein -, weitere Terrorakte anzukündigen. Sicherheitsbehörden und Geheimdienste warnen schon länger vor Anschlägen. Naturgemäß emotionale Reaktionen im Nachgang erinnern an den 11. September 2001. Allgemein ist von "einer neuen Dimension des globalisierten Terrorismus" die Rede. Die Forderung des französischen Präsidenten François Holland nach einem "Krieg gegen den Terrorismus" gleicht jener des damaligen US-Präsidenten George W. Bush.

Allgegenwärtig ist auch wieder die Diskussion um den "Kampf der Kulturen" und den fundamentalistischen Missbrauch des Islam als Waffe. Seit 9/11 tritt die Figur des Selbstmordattentäters in den Vordergrund - aktuell nun bei den Anschlägen in Brüssel. Der Status als EU-Hauptstadt mit Anschlägen auf dem Flughafen und mitten im EU-Viertel sorgte für einen dem Terrorismus eigenen Symbolwert. Mittlerweile tragen soziale Medien die schrecklichen Bilder fast in Echtzeit um die Welt. Wir wissen: Die Terrorvereinigung des IS will in Syrien und im Nordirak ein eigenes Kalifat aufbauen. Mit internationalen Hilfe wird sie nun zurückgedrängt. Ihre Antwort darauf ist, den Terror nach Europa zu bringen.

Angst und Unsicherheit über die Art der Bedrohung sind also mit Händen zu greifen - zu Recht. Doch ist der Terror in Westeuropa nicht neu. Europa wurde von den 1970ern bis Mitte der 1990er immer wieder von Terrorwellen heimgesucht. Jährlich wurden 100 bis 400 Menschen ermordet. Globale Datenbanken zeigen, dass der Terrorismus weltweit zunimmt, nicht aber in Europa. Besonders in den 1970ern und 1980ern gehörten Terroranschläge in Teilen Europas zum Alltag. Terroristen agierten in Gruppen, professionell-hierarchisch organisiert, mit hoher Symbolik und auch international. Es agierte eine Vielzahl von terroristischen wie separatistischen Organisationen: die sich katholisch nennende IRA in Nordirland, die baskische ETA in Spanien, die linksextremistische RAF in Deutschland, die kommunistischen Roten Brigaden, die neofaschistische Ordine Nuovo in Italien sowie nicht-europäische Terrorzellen. Im Nordirland-Konflikt starben primär in Großbritannien und Nordirland rund 3500 Menschen durch Terror. 1980 etwa wurden bei einem Anschlag auf den Hauptbahnhof in Bologna 85 Menschen getötet, mehr als 200 wurden verletzt.

2016 (Brüssel) wird bereits jetzt wie schon 2015 (Paris), 2011 (Oslo durch den Einzeltäter Breivik) und 2004 (Madrid) als schwarzes Jahr in Europas jüngste Terrorgeschichte eingehen. An der langjährigen Tendenz, dass Westeuropa nach den Terrorwellen in den 1970er bis 1990er Jahren heute weit weniger Opfer zu beklagen hat, ändert dies aber wenig. Manche Boulevardzeitung lässt vermuten, dass in Frankreich, Spanien und der Türkei hinter jeder Ecke ein Terrorist lauere.

Wir sollten uns vor solchen Bildern und Dramatisierungen hüten - auch zum Selbstschutz.