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Von der Kolonie zur Steueroase

Von Andreas und Stefan Brocza

Gastkommentare

Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft waren die meisten Gründungsstaaten noch Kolonialmächte. Die Gründungsverträge sahen daher auch spezielle Vorschriften für die damaligen Kolonialgebiete vor. Im Rahmen einer besonders engen Assoziierung wurden sie eng angebunden. Sie waren zwar territorial nicht Teil der EWG, kamen aber in den Genuss besonders günstiger Handelspräferenzen.

Mit der in den 1960er Jahren beginnenden Entkolonialisierung veränderten sich auch die Beziehungen zu diesen Überseegebieten. Die meisten wurden unabhängig und fielen so automatisch aus den EG-Verträgen. Eine immer kleiner werdende Gruppe von Gebieten und Territorien verblieb jedoch in diesem Sonderstatus - bis heute. Ihre Zahl erhöhte sich durch den EG-Beitritt von Großbritannien und Dänemark. Durch den Beitritt Portugals und Spaniens kamen weitere ultraperiphere Gebiete hinzu.

Heutzutage werden die betroffenen überseeischen Länder und Gebiete einzelner EU Staaten in zwei Gruppen eingeteilt. Einerseits gibt es die "Überseeischen Länder und Gebiete" des Vereinigten Königreichs, der Niederlande, Frankreichs und Dänemarks. Diese erinnern weiterhin an frühere Kolonien und zeichnen sich durch einige Schlüsselmerkmale aus: Sie sind klarerweise keine unabhängigen Staaten und verfügen über keine eigenständige Außenpolitik. Die jeweiligen Mutterländer übernehmen es, ihre Interessen international zu vertreten; auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik liegt in der alleinigen Verantwortung des jeweiligen EU-Heimatstaates.

Fern von Europa, aber mitten im EU-Binnenmarkt

Gleichzeitig genießen die Überseegebiete jeweils unterschiedliche Formen von (Semi-)Autonomien im Bereich von Politik, Verwaltung und Rechtsprechung. Sie sind nicht Teil der EU, europäisches Recht gilt nur insoweit, als es in speziellen Abmachungen und Verträgen ausgehandelt wurde. Sie fallen unter das Instrument der Assoziierung. Die Bewohner dieser Länder besitzen jedoch in der Regel die Staatsbürgerschaft ihres Mutterlandes und sind somit auch Unionsbürger.

Die zweite Gruppe von Überseegebieten ist als "Ultraperiphere Regionen, Regionen und Gebiete in äußerster Randlage" bekannt. Sie sind jeweils vollständige Teile eines EU-Staates und unterscheiden sich so nur durch ihre entfernte Lage vom Rest in Europa. Diese Teile nehmen voll am politischen Leben teil, wählen Volksvertreter in die nationalen Parlamente und unterstehen den Bestimmungen des Europarechts. Etwaige Ausnahmen und Sonderbestimmungen begründen sich aus einer besonderen wirtschaftlichen und geografischen Lage und sind zeitlich begrenzt. Programme und Projekte finanzieren sich aus dem Strukturfond und aus Mitteln der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU.

Diese EU-Gebiete in äußerster Randlage sind ungeachtet ihrer geografischen Abgelegenheit fester Bestandteil des EU-Binnenmarktes. In der Karibik gehören dazu etwa die beiden französischen Übersee-Départements Martinique und Guadeloupe sowie die Übersee-Körperschaft Saint-Martin.

Die aktuelle Assoziierung der "Überseeischen Länder und Gebiete" - der Quasi-Restkolonien der EU - wird im geltenden Vertrage über die Arbeitsweise der EU geregelt. In der Karibik sind dies St. Barthélemy (Frankreich), Aruba, Bonaire, Curaçao, Saba, St. Eustatius und Sint Maarten (Niederlande) sowie Anguilla, die Cayman Inseln, Montserrat, die Turks- und Caicos-Inseln, die Britischen Jungferninseln und Bermuda (England).

Die karibischen Überseegebiete teilen viele historische und sozio-ökonomische Merkmale. Sie sind als "Small Island Economies" zu definieren und blicken auf eine lange koloniale Vergangenheit zurück, in der sie zu Produzenten von agrarischen Exportgütern (vor allem Zucker, Baumwolle und Bananen, meist in Plantagenwirtschaft) für die Weltmärkte gemacht wurden. In der Phase der Entkolonisierung ab den 1960ern suchten viele Gebiete, die entgegen dem Trend in semi-staatlicher Abhängigkeit zu ihrem europäischen Zentrum verblieben, ihr ökonomisches Heil darin, als "Offshore Financial Centre" zu Steueroasen zu werden.

Steuervermeidung als Entwicklungsmodell

Dabei sind insbesondere drei Eckpunkte zu beachten: Erstens hat vor allem Großbritannien proaktiv die Bildung von "Offshore Financial Centres" zur Steuervermeidung betrieben und nutzte dafür meist "Small Island Economies" in ihrer politischen Abhängigkeit. Zweitens hatte die nordamerikanische Finanzindustrie wachsenden Bedarf dabei, institutionelle Bankpartner für die sich immer globalisierende Wirtschaft zu finden. Die Karibik mit ihrer geografischen und sprachlichen Nähe und ihrer Verankerung im Dollar-Währungsraum bot sich hier bevorzugt an. Drittens fanden sich regionale politische und gesellschaftliche Partner auf den Inseln, die Finanztransaktionen als Mittel der wirtschaftlichen Entwicklung nutzen wollten.

Steuervermeidung als Entwicklungsmodell in EU Restkolonialgebieten hängt stark davon ab, in welchen nationalen Abhängigkeiten sich die jeweiligen Gebiete befinden: Die britischen Gebiete zeigen die höchste Affinität zur Schaffung von Steueroasen - erklärbar dadurch, dass das britische Zentrum vergleichsweise wenig Interesse an seinen noch abhängigen "imperialen Restbeständen" zeigt. Über lange Jahre war es die Politik Londons, davon auszugehen, dass die Entkolonisierung aller seiner Gebiete nur eine Frage der Zeit sei. Bis dahin sollen die "Überseeischen Länder und Gebiete" eine möglichst geringe Kostenbelastung für den britischen Haushalt darstellen. Solange sie sich großteils selbst finanzierten und keinen politischen Skandal verursachten, ließ man sie gewähren.

Beispielhaft dafür sind die Cayman Inseln. Historisch waren sie eine "Kolonie einer Kolonie". Sie wurden vom größeren und bedeutenderen Jamaika aus mitverwaltet. Das änderte sich erst mit Jamaikas Unabhängigkeit 1962. Die Cayman Inseln beschlossen, weiterhin als abhängiges Gebiet unter britischer Schirmherrschaft zu verbleiben. Ihre Finanzen waren bereits seit den 1950ern von London unabhängig, da die Wirtschaft von Auslandsüberweisungen (viele Bewohner der Inseln waren für die US-Handelsmarine als Seeleute tätig) profitierte.

Erfolgreicher finanzpolitischer Kurs der Caymans

Bewusst wählten die Regierung und Eliten der Caymans die Bermudas als Entwicklungsvorbild für ihre Finanzindustrie. Großen Wert legten sie dabei darauf, dass sie nie "aid dependend" - also von klassischen staatlichen Entwicklungsgeldern abhängig - waren. Der Kurs war erfolgreich: Bereits 2005 konnten die Caymans fast 45.000 US-Dollar Einkommen pro Kopf vorweisen, während Jamaika knapp mehr als 3600 US-Dollar verzeichnete - und das ohne Besteuerung der eigenen Einwohner. So verwunderte es auch nicht, dass die Caymans zu einem Wortführer gegen die "Harmful Tax Competition Initiative" der OECD 1998 wurden. In der jüngsten Finanzkrise mussten die Caymans jedenfalls in London um dringende Hilfszusagen bitten, um sich überhaupt noch Gelder auf den privaten Finanzmärkten ausleihen zu können.

Die niederländische Karibik hat eigene, spezielle Formen der Steuervermeidung entwickelt. Traditionell war dieses Gebiet in Aruba und die Niederländischen Antillen unterteilt, bis sich die Antillen ihrerseits in eigene Verwaltungsorganisationen auflösten. Ähnlich wie bei den britischen Besitzungen ging der europäische Heimatstaat von einer baldigen Unabhängigkeit seiner Karibikinsel aus, die aber nicht eintrat. Wie auch Großbritannien versuchen die Niederlande die Kosten für ihre Überseegebiete möglichst niedrig zu halten, was aber aufgrund mitunter hoher Verschuldung mancher Inseln und starker Kriminalität nicht immer möglich ist.

Karibikinseln mit Anbindung an Eurozone und US-Dollar

Die niederländische Karibikinseln weisen eine Besonderheit unter den "Offshore Financial Centres" aus: Ihre Heimat ist als Euroland vollständig in die EU eingebunden, gleichzeitig besitzen sie aber eigene Währungen, die an den US-Dollar gebunden sind. Der Wirtschaftsstandort hat sich aufgrund dieser engeren Anbindung an die EU auf Geschäfte mit europäischen Gesellschaften konzentriert und gleichzeitig versucht man, mit den Möglichkeiten des EU-Rechts zur präferenziellen Kumulierung die Wirtschaft zu stärken. Die niederländischen Karibikinseln sind ebenfalls durch Transparenzinitiativen gegen Steueroasen unter Druck geraten, werden aber von ihrem Heimatland einerseits mehr zur Mitarbeit gedrängt, andererseits werden in ihrem Interesse Ausnahme- und Übergangsbestimmungen auch in der Eurogruppe eingefordert.

Im Vergleich zu den beiden vorigen Beispielen sind Steuervermeidungsmodelle in den französischen Karibikgebieten eher die Ausnahme. Frankreich will seine imperialen Reste möglichst erhalten und unternimmt vieles, diese enger an die Metropole zu binden. Die französischen Karibikgebiete sind zu einem Beispiel "permanenter Transferökonomien" geworden und werden aus französischen und europäischen Entwicklungsfazilitäten nachhaltig und tiefgreifend alimentiert. Damit versucht man eine differenzierte Wirtschaft mit idealerweise Weiterverarbeitender Wertschöpfung zu schaffen und investiert auch in die Infrastruktur.

Die Diskussion um Steueroasen geht oft am eigentlichen Problem vorbei: Die Hauptbetreiber und Nutznießer dieses zu Recht in Verruf geratenen Geschäftsmodells sitzen mitten unter uns als ehrenwerte Mitglieder im Klub der EU-Staaten. Zum Austrocknen von Steueroasen fehlen nicht die Möglichkeiten, sondern einfach der politische Wille. Für die Regierungen der Mutterländer ist das Geschäft einfach zu lukrativ.

Der Beitrag "Steuervermeidung als Instrument der Entwicklungspolitik" von Andreas und Stefan Brocza erscheint Ende des Jahres im Jahrbuch Ökonomie und Gesellschaft mit dem Schwerpunktthema "Aggressive Steuergestaltung".