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Jeder soll Recht behalten

Von Heinzl Kienzl

Gastkommentare
Heinz Kienzl war Generaldirektor der Oesterreichischen Nationalbank. Er ist Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik. privat

Vom früheren ÖGB-Generalsekretär Anton Proksch stammt eine zynisch klingende Definition für Demokratie: "Demokratie ist, wenn jeder glaubt, dass er was zu reden hat." Dies fiel mir ein, als ich las, dass die Europäische Union mehr Bürgernähe praktizieren und dazu nicht nur Meinungsumfragen durchführen will, sondern auch Volksabstimmungen, Volksbefragungen und Europäische Bürgerinitiativen.

Wenn man bedenkt, wie Europa vor dem "Brexit"-Referendum zittert, wird einem wirklich schwindlig. Bei welchem Wechselkurs wird sich das Pfund stabilisieren, wird Großbritannien als Empire wieder auferstehen, werden dann keine Polen mehr als Installateure in London arbeiten, muss dann England nicht fürchten, dass Flüchtlingswellen aus dem Nahen Osten England überschwemmen werden? Vor allem: Werden dann die Schotten die Chance nützen und mit einer neuen Volksabstimmung die Trennung von England erfolgreich abschließen?

Jüngst verwarfen die Niederländer in einem Referendum eine Annäherung der EU an die Ukraine. Dabei weiß man nicht einmal, ob sie bloß ihrer Regierung einen Tritt aufs Schienbein verpassen wollten, ob sie tatsächlich Angst vor Flüchtlingen aus der Ukraine haben, ob sie überhaupt die Zustände in der Ukraine kennen.

Die Schweizer haben mehr Erfahrung in der direkten Demokratie als die übrigen Europäer, und Claude Longchamp vom Forschungsinstitut GFS-Bern hinterfragt regelmäßig jede Volksabstimmung und kommt zu interessanten Ergebnissen, die dann auch in der Bewertung der Volksabstimmung eine Rolle spielen. Ohne Hinterfragen eines Referendums weiß man grundsätzlich nicht, was die Teilnehmer im Kopf hatten, als sie mit Ja oder Nein stimmten.

Wenn NGOs Volksbegehren anstreben, mag das noch hingehen - pervers wird es aber, wenn Parlamentsparteien Volksabstimmungen verlangen und dabei nicht erkennen, dass sie offenbar an ihrer "raison d’être " zweifeln. Sie geben doch vor, ihre Wähler zu vertreten, im dauernden Kontakt mit ihnen zu stehen und ihr Ohr am Mund des Volkes zu haben.

Wenn eine politische Partei wissen will, was die Wähler denken, was deren Wissensstand ist, wie deren Meinung gebildet wurde, dann ist es nicht nur billiger, sondern auch sachlich begründeter, ein ausreichend großes repräsentatives Sample zu befragen, das kann man dann nach allen Richtungen analysieren.

Das wird nicht alle zufriedenstellen. Jeder möchte doch seinen Kopf durchsetzen und bedenkt nicht, dass andere genauso ihren Kopf durchsetzen wollen. So ist es doch das Beste, wenn die Parteien im Parlament ihre Standpunkte darlegen, wie es schon Karl Renner überzeugend getan hat. Und dem Wähler, der gerne Recht haben wollte, könnte man mit der schönen Parabel von dem Rabbiner dienen, bei dem sich ein Mann über seine Frau beschwerte, woraufhin der Rabbi sagte: "Mann, du hast Recht!" Und der Frau, die sich über den Mann beschwerte, sagte er: "Frau du hast Recht!" Und zum Bocher der meinte, der Rabbi könne doch nicht beiden Recht geben, sagte er: "Bocher du hast auch Recht!"

Irgendwie hat jeder Recht.