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Der Brexit-Weckruf: Versteht die EU die Signale?

Von Kurt Bayer

Gastkommentare

Der Ausgang des britischen EU-Referendums hat nicht nur den Brexit-Befürwortern, sondern großen Teilen Europas eine aufrüttelnde und äußerst negative Überraschung beschert. Die Details der sehr schwierigen Austrittsverhandlungen, von wann denn der Austritt formell gezündet werden soll (erst ab diesem Zeitpunkt ist die EU bereit, über die Zukunft zu verhandeln), bis zu dem bisher nicht existenten Plan der neuen britischen Regierung, wie denn in Zukunft Britanniens Beziehungen zur EU aussehen sollen (Wunsch ans Christkind: voller Zugang zum Binnenmarkt bei gleichzeitiger Abschottung gegen Personenfreizügigkeit), liegen noch im Dunkeln.

Den europäischen Behörden werden riesige Volumen an menschlicher Arbeitszeit und schwierigste Verhandlungen auferlegt, wo doch wahrlich genügend andere Herausforderungen da sind. Britannien hat sich und die EU durch beide Knie geschossen. Die ursprüngliche Absicht der Brexiteers, die auch Ex-Premier David Cameron unterstützt hat, war es ja, die "Rest-EU" aufzurütteln und den innerparteilichen Frieden bei den Tories wiederherzustellen. Selten ist die Taktik eines Premiers so nach hinten losgegangen. Cameron wird als Erschaffer von "Little England" (außerhalb der EU und ohne Schottland, vielleicht auch Nordirland) im Gedächtnis bleiben: David allein zu Hause - allerdings mit gewaltigen Kosten für viele andere.

Britannien muss mit dem selbst verursachten Schlamassel alleine fertig werden. Allerdings sind dadurch auch die Weltwirtschaft und natürlich die gesamte EU massiv beeinträchtigt. Nicht nur spielen die Finanzmärkte verrückt, nicht nur droht die sowieso weitgehend erfolglose Krisenbekämpfung der Finanzkrise die EU-Wirtschaft in eine weitere Rezession zu stürzen - das BREXIT-Votum hat der EU-Integrationsdynamik nach 60 Jahren den ersten ganz gravierenden Rückschlag versetzt. Und das zur Freude der fast überall in den EU-Ländern immer stärker werdenden, rechtspopulistischen, EU-Gegner. Le Pen, Wilders, Strache und Konsorten haben das in ihrem "Frühling in Wien" schon vorweggefeiert. Sie wollen die Auflösung der EU, zurück zum "souveränen Nationalstaat".

Es braucht jetzt mehr als bloß "business as usual"

Die EU-Behörden zeigen sich bestürzt. Britannien wurden eine konstruktive Lösung (ehebaldigst) zugesagt und als Abhilfe eine ganze Reihe von schon lange auf der Agenda stehenden Initiativen, von der Lösung der Flüchtlingskrise über die Digitalagenda und die unvollendete Bankenunion bis zur Energieunion, zur Beschleunigung vorgesehen. Darüber hinaus soll es einen "politischen Dialog" der Regierungschefs geben, der in einem Treffen im EU-Vorsitzland Slowakei im September gipfeln soll.

Das reicht jedoch keineswegs, um die breit gefächerte Skepsis der EU-Bürger in eine EU-freundliche Stimmung umzupolen. Der Weckruf muss dynamische Aktivität in zwei Richtungen entfalten (die oben genannten Initiativen sind schön und gut, jedoch "business as usual" und daher keineswegs geeignet, Büger umzustimmen). Die EU-Stimmung (und damit das Vertrauen in die je eigenen Regierungen) wird sich nur bessern, wenn die EU-Bürger tatsächlich merken, dass sich ihre persönliche Lage und die Zukunftsaussichten ihrer Kinder verbessern. Es reicht nicht, wenn die Zentralbanken weitere Milliarden für die strauchelnden oder an Unsicherheit leidenden Banken bereitstellen: Das mag zwar notwendig sein, kommt aber jedenfalls nicht bei der Bevölkerung an.

Im europäischen Strategie-Forschungsprojekt "Welfare, Wealth and Work for Europe" (WWWfE), initiiert und geleitet vom Wifo, wird eine integrierte EU-Strategie, die auf wirtschaftlicher Dynamik, sozialer Inklusion und Umwelt-Nachhaltigkeit beruht, vorgeschlagen. Während mittelfristig alle drei Elemente gleichrangig und gemeinsam zu verfolgen sind, ruft die derzeitige Situation nach einer kurzfristigen Priorisierung des Inklusionsbereiches, mithilfe neuer wirtschaftlicher Dynamik. Nur wenn ein breit gestreutes und massives Investitionsprogramm neue Arbeitsplätze, verbesserte soziale Absicherung und positive Umwelteffekte schaffen kann und die langjährige Stagnation der Einkommen in wachsenden Wohlstand dreht, werden die Bürger die EU für unterstützenswert halten.

Wurde die EU lange Jahre (zu Recht) als "Friedensunion" gefeiert, so muss sie in Zukunft als "nachhaltige Wohlstandsunion" gestaltet werden. Die am jüngsten Gipfel selbstbeweihräuchernde Bewertung von Jean-Claude Junckers Investitionsinitiative EFSI ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie muss deutlich verstärkt und vor allem in umweltverbessernde und soziale Infrastruktur (Ausbildung, Forschung und Entwicklung, Gesundheitsvorsorge, soziale Absicherung) gelenkt werden.

Falsche Fokussierung der EU-Wirtschaftspolitik

Viel wichtiger aber ist es, die falsche Fokussierung der EU-Wirtschaftspolitik auf Budgetkonsolidierung aufzuheben und in den EU-Mitgliedsländern öffentlichen Investitionen den ihnen zukommenden viel größeren Platz zuzuordnen als Stimulator von darauf folgenden Privatinvestitionen. Die falsche Ideologie der EU-Behörden und meisten EU-Länder, dass Wirtschaftswachstum auch in Krisenzeiten durch "gesunde öffentliche Finanzen" - sprich: Budgetkonsolidierung - gemeinsam mit "Strukturreformen" - sprich: Verbesserung der Angebotsbedingungen - zu erzeugen ist, hat sich als vollkommen irreführend erwiesen, wie die extrem hohen Arbeitslosenraten und das anämische Wirtschaftswachstum der meisten EU-Länder zeigen.

Die Brexit-Krise verstärkt die Notwendigkeit einer raschen Stimulierung der Investitionstätigkeit zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Bekämpfung des Klimawandels weiter. (Die neue britische Premierministerin Theresa May hat diese Botschaft der Brexit-Befürworter offenbar verstanden und verspricht eine Wirtschaftspolitik für alle, nicht nur für die Privilegierten. Sie hat bereits ein "sozialdemokratisches" Programm vorgeschlagen: Schaffung von Arbeit, Mitbestimmung in den Unternehmen, Umverteilung durch Steuerpolitik, Verbot exzessiver Managergehälter, etc. Schauen wir, was davon sie umsetzen wird . . .) Konkret bedeutet dies auf EU-Ebene, den Stabilitäts- und Wachstumspakt in all seinen Manifestationen zu lockern beziehungsweise zugunsten einer sinnvollen wirtschaftspolitischen Orientierung, die Beschäftigung, soziale Absicherung, Umweltverbesserung - mit einem Wort: "gutes Leben" für alle - anstrebt, abzulösen.

Der zweite große Bereich, der raschest angegangen werden muss, ist das vielbeschworene "demokratische Defizit" der EU-Verfahren. Dabei geht es einerseits um eine rasche Vereinfachung der äußerst komplizierten Verfahren, sodass sie für die Bürger verständlich und damit auch kontrollierbar werden. So ist ihnen nicht zu erklären, warum im Juni 2015 ein "Bericht der fünf Präsidenten zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion" verfasst wurde. Warum fünf Präsidenten? Was sind deren spezifische Aufgaben, warum reichen nicht zwei? Und damit spreche ich nicht einmal die der oben kritisierten Ausrichtung der Wirtschaftspolitik folgenden Inhalte an. Oder: Warum befasst sich die EU mit Glühbirnen, Olivenölkännchen, Gurkenkrümmungen, etc., anstatt die wirklich großen Fragen zu lösen, die einzelstaatlich nicht lösbar sind.

Massiver Ausbau der Bürgerbeteiligung

Andererseits aber geht es um einen massiven Ausbau der Bürgerbeteiligung, und zwar vor allem bei der Vorbereitung von Gesetzesinitiativen, nicht unbedingt bei Entscheidungen. (Auch hier hat das Brexit-Referendum die Gefährlichkeit bindender Referenden für existenzielle Fragen aufgezeigt, die leicht von populistischen Kräften gekapert werden können). Es gibt tausende Lobbyisten in Brüssel, die die Interessen der Unternehmen effektiv artikulieren. Diesen steht nur eine Handvoll Konsumentenschützer und Arbeitsrechtler gegenüber. Die direkten Interessen der Bürger sind kaum direkt vertreten. Es hilft keineswegs, wenn bei Anliegen wie dem Freihandelsabkommen TTIP Millionen von Unterschriften für ein Volksbegehren einfach mit formal-juridischen Argumenten abgeschmettert werden. Es hilft nicht, wenn Banken hunderte Milliarden Euro Hilfen gegeben werden, für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit hingegen nur sechs Milliarden da sind. Nimmt es da Wunder, wenn die Bürger nicht ihre ureigenen Interessen durch die EU vertreten sehen? Die viel stärkere Einbeziehung der Bürger muss natürlich auch in den Nationalstaaten viel besser praktiziert werden.

Der Brexit-Weckruf ist eine letzte Chance, den EU-Gegnern und Skeptikern Wind aus den Segeln zu nehmen. Nur business as usual", also eine Beschleunigung der bestehenden Agenda, reicht dazu nicht. Es müssen sofort sowohl die Inhalte der EU-Politik als auch die Verfahren massiv geändert werden. Die Interessen der EU-Bürger müssen in den Vordergrund, die althergebrachten ("neoliberalen") Rezepte der Wirtschaftspolitik aufgegeben und durch eine pragmatische, direkt den Bevölkerungen zugutekommenden Politik abgelöst werden.

Dabei müssen die Bürger viel stärker als bisher in die Entscheidungsvorbereitungen eingebunden werden. Die WWWfE-Strategie zeigt einen Weg auf, der nach der Brexit-Vorentscheidung aktueller denn je ist. Er muss forciert von den Staats- und Regierungschefs und den EU-Behörden gegangen werden. Ansonsten war unser hehres Gut, die Europäische Union, ein 50-jähriges Aufflackern einer grandiosen Idee. Die Präsidenten der EU sowie die Staats- und Regierungschefs müssen noch vor der Sommerpause einen offenen Konvent mit Bürgerbeteiligung abhalten, um ihre Entschlossenheit zum Wandel, zur Richtungsänderung in Inhalt und Verfahren zu zeigen.