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Das Unbehagen der Demokraten

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien.
© Daniel Novotny

Zur Logik der türkischen Demonstrationen.


Der österreichische Kanzler empfindet "Unbehagen" angesichts der Pro-Erdogan Demonstrationen mit ihren anti-kurdischen und sonstigen Entgleisungen. Unbehagen - das bedeutet, dass er solche Vorkommnisse verurteilt, diese Verurteilung aber nicht aussprechen kann. Denn eine solche Verurteilung könnte in den Geruch kommen, das Demonstrationsrecht infrage zu stellen. Ein Hautgout.

Die umstrittene UETD, die Union europäisch-türkischer Demokraten, hat das Demonstrationsrecht gar als "heiliges" Recht bezeichnet. Aber beginnt hier nicht bereits das Missverständnis? Ein heiliges Recht? Ein Heiligtum ist etwas, dem man sich unterwirft. Ist das Demonstrationsrecht nicht vielmehr das Gegenteil davon - eine Möglichkeit der Selbstermächtigung? Und folgten die Demonstrationen hierzulande nicht genau diesem Missverständnis? Waren sie Meinungsäußerungen autonomer Bürger oder wurde hier nicht vielmehr eine "heilige" Pflicht erfüllt?

Erdogan hat wiederholt "sein" Volk aufgerufen, sich auf der Straße zu versammeln. Was bedeutet es nun, wenn diesem Ruf auf Österreichs Straßen Folge geleistet wird?

Erdogan hat in den letzten Jahren ein ganz neues Konzept auf den Weg gebracht. Es ist nicht einfach Nationalismus. Er ist vielmehr etwas, das man als transnationalen Nationalismus bezeichnen muss. Das haben etwa seine europaweiten Wahlkämpfe gezeigt, wo er die in Europa verstreuten Türken aufsuchte. Er hat die türkische Nation gewissermaßen ent-territorialisiert. Erdogans Türkei ist nicht mehr ausschließlich an deren Staatsgebiet gebunden. Er hat die Türkei vielmehr erweitert, indem er sie neu definiert hat: Türkei ist dort, wo Türken sind. In diesem Sinn ist seine Nation transnational.

Was kürzlich seine Wahlkämpfe, das vollziehen jetzt seine Aufrufe, das türkische Volk möge überall die Plätze füllen. Aber auch die Mahnungen, in den sozialen Medien "Terroristen" zu melden: Das alles sind Strategien seines transnationalen Nationalismus, der Türken überall, wo immer sie physisch sein mögen, auf ihr Türkentum verpflichten will. Die migrantischen Communitys, die türkische Diaspora wird als Diaspora durchgestrichen. Türken sind "seine" Türken, wo immer sie leben mögen. Das alles sind Strategien einer geistigen Heimholung der Auswanderer, einer emotionalen Rückbindung.

Und genau diesem Konzept scheinen auch die Demonstrationen in Wien gefolgt zu sein. Waren das politische Meinungsäußerungen, wie sie das Demonstrationsrecht vorsieht? Oder waren das nicht vielmehr Selbstvergewisserungen als Erdogan-Volk im Sinne eines "heiligen" Rechts? In diese Logik, in dieses Drehbuch gehören die Kampfparolen ebenso wie die Attacken auf ein kurdisches Lokal. Das ist nicht einfach der Import von Konflikten, wie man jetzt überall hört. Es ist vielmehr der Export der Demonstranten - ihr geistiger Export: Hier auf der Straße schwören sie sich auf Erdogans Türkentum ein. Das ist transnationaler Nationalismus in Reinform.

Der Kanzler hat recht: Es gibt ein Unbehagen. Sogar zwei: Das Unbehagen, als Demokrat eine Demonstration zu kritisieren. Und das Unbehagen des Demokraten angesichts solcher Demonstrationen.