Zum Hauptinhalt springen

Die Erdogan-Türkei und die EU

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien.
© Daniel Novotny

Zu den Aussagen von Bundeskanzler Christian Kern.


An den sehr deutlichen Aussagen von Bundeskanzler Kern zur Türkei wurde vieles diskutiert. Vor allem deren Deutlichkeit. Kerns Ablehnung eines EU-Beitritts der heutigen Türkei orientiert sich nicht an der "roten Linie" der Todesstrafe. Für ihn erfüllt die derzeitige Erdogan-Türkei bereits jetzt die "Standards" der EU nicht. An dieser Aussage ist nicht der zweite, sondern der erste Teil beachtenswert. Die Nicht-Erfüllung ist eindeutig. Man kann dieser Nicht-Erfüllung, dem Umbau des Landes in eine autoritäre Demokratie in Echtzeit zuschauen. Der Gegenputsch, zu dem die türkische Politik mutiert ist, "will be televised". Er wird gesendet.

Man sollte aber den ersten Teil des Kern-Satzes beachten, die Rede von den "Standards" der EU. Ein Standard ist eine allgemein anerkannte Norm. Die demokratischen Standards von Rechtsstaat und Menschenrechten mögen jene der EU sein. Und wenn auch manche Staaten mittlerweile davon abweichen - so bilden diese Normen doch die regulative Idee der EU. Aber die Vorstellung, diese demokratischen Standards seien heute universell, also allgemein gültig, wird derzeit massiv widerlegt. Diese Standards mögen universell konzipiert sein. Heute aber werden sie vielerorts immer mehr partikularisiert. Sie werden in ihrer Anerkennung von universellen zu partikularen, von allgemein gültigen zu beschränkt gültigen Standards. Statt Vorgabe und Maßstab wird Demokratie zunehmend zu einem Sondermodell. Dass Erdogans Umbau der Türkei eine Nicht-Erfüllung der demokratischen Normen darstelle, ist deshalb nur eine europäische Sicht. Aus der neuen türkischen Sicht vollzieht Erdogan keine Abweichung von der Norm, sondern vielmehr eine Zurückweisung dieser demokratischen Normen. Erdogan schafft sich ganz andere Standards - und hat dabei ganz andere Allianzen als die EU im Blick.

Es sind dies Standards, die auf Treue und Gehorsam und nicht auf Freiheit und Kritik basieren. Standards, die auf einer Theologisierung der politischen Herrschaft und nicht auf einem säkularen Staat beruhen. Und es sind dies Standards, die auf einer Homogenisierung der Gesellschaft und nicht auf deren Vielfalt abzielen.

Die unfassbar vielen Verhaftungen, die massiven Repressionen, die ganze wohl vorbereitete und konzertierte Ausschaltung aller möglichen Gegner, aller realen "Anderen" zeigen übrigens eines sehr deutlich: sie zeigen, dass Gesellschaften wie die türkische keineswegs homogen sind. Sie zeigen, dass diese Gesellschaft vielfältig ist. Sie zeigen also, dass die Homogenität einer "rein" muslimischen, einer "rein" türkischen Gesellschaft keineswegs gegeben ist. Diese muss vielmehr erst hergestellt werden. Brutal und repressiv.

Unter welchem Label sie auch immer firmiert - ob unter dem Label der Religion oder dem der Ethnie - Homogenisierung ist in keinem Fall eine naturwüchsige Ordnung. Sie muss immer erst durchgesetzt werden. Die Demokratie aber ist nicht mehr der Standard und die Norm. Deshalb ist die EU aufgerufen, politisch Verfolgten, türkischen Demokraten Asyl zu gewähren. Denn Erdogan hat die Grenze zwischen "seiner" Türkei und der EU verwandelt. Er hat sie zu einer Systemgrenze gemacht.