Zum Hauptinhalt springen

Keine Freiheit für die Feinde der Republik

Von Stefan Brocza

Gastkommentare
Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und Internationale Beziehungen. Im Vorjahr erschien der von ihm herausgegebene Sammelband "Die Auslagerung des EU-Grenzregimes" bei Promedia.
© privat

Mit zunehmender Gleichgültigkeit werden europäische Grundrechte außer Kraft gesetzt - nicht nur in der Türkei.


Europa ist eine Rechte- und Wertegemeinschaft. Nichts verdeutlicht das mehr als die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Diese wurde von allen 47 Mitgliedern des Europarats unterzeichnet und gewährt mehr als 820 Millionen Menschen ein weltweit einzigartiges System zur Wahrung von Grund- und Menschenrechten. Meinungs-, Gewissens-, Religions- und Versammlungsfreiheit, aber auch das Recht auf ein faires Verfahren - all das sichert die EMRK. Jeder, der in diesen Rechten eingeschränkt wird, kann beim EU-Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg dagegen klagen.

Umso erstaunlicher, mit welcher Nonchalance immer wieder über diese Rechte hinweggegangen wird. Nach den Anschlägen von Paris beantragte Frankreich - gern als "Wiege der Menschenrechte" gesehen - die Teilaussetzung der EMRK gemäß Artikel 15. Dieser erlaubt ein Abweichen, sofern "das Leben der Nation durch Krieg oder anderen öffentlichen Notstand bedroht" wird, muss aber vor dem Europarat klar begründet werden. Folter, Sklaverei oder Strafen ohne gesetzliche Grundlagen bleiben auch dann verboten. Der Gerichtshof kann die Notwendigkeit der Maßnahmen im Einzelfall weiterhin prüfen.

Nach dem Anschlag von Nizza verlängerte Frankreich die Notstandsgesetze bis Ende Jänner 2017. Der Schutz vor willkürlicher Verhaftung besteht formal weiter. Dennoch sind etwa Hausdurchsuchungen zu jeder Tages- und Nachtzeit ohne richterliche Genehmigung sowie die Festnahme von Verdächtigen möglich. Seitens der Politik mehren sich Stimmen, den Menschenrechtskanon zu ändern. Der Gedanke dahinter: Es könne keine Freiheit für die Feinde der Republik geben.

Von ganz anderer, erschreckender Qualität sind die EMRK-Einschränkungen in Folge des Putschversuchs in der Türkei. Die Entscheidung von Präsident Recep Tayyip Erdogan, Festgenommene bis zu 30 Tage zu inhaftieren, ohne sie einem Richter vorzuführen, ist selbst im Ausnahmezustand nicht zulässig. Maximal 14 Tage - das hat der Gerichtshof in Straßburg bereits 1996 entschieden. Das derzeitige Vorgehen der Türkei birgt außerdem die Gefahr von Folter und Misshandlung von Verdächtigen, insbesondere wenn ihnen der Kontakt zu Anwälten untersagt ist. Dazu kommen Androhungen der Wiedereinführung der Todesstrafe.

Bei all dem darf ein Land nicht übersehen werden: Im Vorfeld der Brexit-Debatte gab es in Großbritannien Überlegungen und Ankündigungen, die EMRK gar völlig zu verlassen. Wortführerin war hier die damalige Innenministerin und heutige Premierministerin Theresa May. Nach dem Amtsantritt wurden ihr Outfit und ihre Schuhe intensiv diskutiert. Dass sie - aus einem irrwitzigen Souveränitätsverständnis heraus - Europas Menschenrechtssystem offensichtlich grundsätzlich ablehnt, war den Medien keine weitere Nachricht wert. Dabei wäre gerade das die Schlüsselfrage für die künftige Ausgestaltung der Beziehungen zur EU.

Eines sollte jedenfalls schleunigst klargestellt werden: Wer den Grundkonsens der europäischen Menschenrechte verlässt, hat jegliches Recht auf Mitgliedschaft im Club Europa verwirkt. Egal, ob er nun in Ankara oder in London sitzt.