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Europa braucht ein Wir-Verhalten und nicht nur ein Wir-Gefühl

Von Johannes Hahn und Elmar Brok

Gastkommentare

Statt eines andauernden internes Händeringens ist gemeinsames Handeln gefragt – gerade mit Blick auf die unmittelbare Umgebung Europas.


Die Europäische Union hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Herausforderungen bestanden. Von der Krise anlässlich des EU-Verfassungsvertrags 2005 über die russisch-ukrainischen Energiekrisen 2006 und 2009 bis hin zur jahrelangen Finanz- und Wirtschaftskrise – ihnen allen war eines gemeinsam: Nicht die Europäische Union hat die Turbulenzen verursacht. Vielmehr sind sie Symptome einer sich immer schneller globalisierenden Welt und damit einhergehender Ängste der Bürger.

War die Diskussion über den Verfassungsvertrag noch der proaktive Versuch, die Europäische Union nach der Wiedervereinigung des europäischen Kontinents durch die Erweiterung von 15 auf 25 Mitglieder fit für eine globalisierte Welt zu machen, so zeigten die Energiekrise sowie die Finanz- und Wirtschaftskrise noch deutlicher, dass ein Europa keine andere Wahl hat, als Souveränität auch in neuen Bereichen zu bündeln, um die Globalisierung mit zu managen und seinen Bürgern Sicherheit, Stabilität und Wohlstand zu liefern, anstatt reaktiv und fragmentiert Nabelschau zu betreiben.

Eines ist inzwischen überdeutlich: Nicht die Welt passt sich Europa an, sondern Europa muss sich der Welt anpassen. Zumindest dann, wenn es sich künftig einen einflussreichen Platz im multipolaren Konzert sichern will.

Derzeit erwirtschaftet die EU-28 mit einem Anteil von nur sieben Prozent der Weltbevölkerung ein knappes Viertel der Weltwirtschaftsleistung; das ist aber nur eine Momentaufnahme. Andere Länder wie Brasilien, China und Indien holen wirtschaftlich stark auf. Chinas Anteil an der Weltwirtschaft stieg etwa von 4,3 Prozent in 2003 auf mehr als zwölf Prozent bis 2013 an. Die Volkswirtschaften Mexikos und Indonesiens sind bereits heute größer als jene Großbritanniens und Frankreichs. Dazu kommt, dass der Anteil der EU an der Weltbevölkerung abnehmen wird, von 7,1 Prozent in 2013 auf 5,3 Prozent im Jahr 2060.

Die Europäische Union daher als Sündenbock für alles darzustellen, was nicht rund läuft - und zudem oft auf Versäumnisse der Mitgliedstaaten zurückzuführen ist -, das ist nicht nur faktisch falsch. Regierungsvertreter schneiden sich damit auch ins eigene Fleisch. Denn die EU ist unser Instrument zur Verteidigung europäischer und nationaler Werte und Interessen und kein Instrument zur Spaltung.

Nicht die Europäische Union hat die Finanzkrise verursacht. Vielmehr hat uns der Zusammenbruch führender Finanzkonzerne in den USA auf schmerzvolle Weise vor Augen geführt, wie stark verästelt der weltweite Finanzkreislauf im Vergleich zum einzelstaatlichen Aktionsradius der nationalen Bankenaufsicht war. Die dadurch verursachte Finanzvertrauenskrise in Europa hat die Refinanzierungskosten aller nicht wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften - nicht nur in der Eurozone sondern auch an der europäischen Peripherie - in die Höhe schnellen lassen, die zuvor nach Einführung der Gemeinschaftswährung ihre politischen wie budgetären Defizite mit billigen Krediten übertüncht hatten. Die Kosten von Bankenrettungen mit dem Geld der Steuerzahler taten ihr Übriges; das staatliche Gesamtdefizit der EU 28 stieg von knapp 61 Prozent des BIP im Jahr 2008 auf fast 87 Prozent des BIP in 2014.

Die globale Finanzkrise hat so schonungslos tiefer liegende, jahrelange Versäumnisse vieler Mitgliedstaaten und ihrer Regierungen offengelegt, richtige, nachhaltige wenn auch schmerzhafte Strukturreformen anzugehen. Warren Buffet sagte treffend: "Wenn die Flut zurück geht, sieht man, wer nackt schwimmt."

Die Europäische Union hat ihre Lehren aus diesen Versäumnissen gezogen. Sie hat eine Bankenunion mit soliderem einheitlichen Regelwerk, einer gemeinsamen europäischen Aufsicht und einem europäischen Abwicklungsmechanismus etabliert; er soll dafür sorgen, dass bei Bankenkrisen Investoren und nicht Steuerzahler die Zeche zahlen. Nun müssen die Mitgliedstaaten die zweite Stufe der Bankenunion endlich implementieren.

Und die EU hat - spät aber doch - die Wirtschafts- und Währungsunion mit Fiskalregeln und Sanktionen für die Verletzung eben dieser gestärkt. Die jüngste Entscheidung der EU-Kommission zur Einleitung eines Sanktionsverfahrens gegen Portugal und Spanien aufgrund von deren Haushaltsdefiziten ist ein wichtiges Signal für die Glaubwürdigkeit dieser europäischen Spielregeln.

Denn Letzteres darf nicht in Vergessenheit geraten. Europa steckt vor allem in einer Vertrauenskrise. Die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit geht weiter auseinander, weil manche nationalen Politiker der Union in zentralen Bereichen - von Wirtschaft, Jobs und Investitionen über das Migrationsmanagement und die innere Sicherheit bis hin zur Außen- und Sicherheitspolitik – nicht die Instrumente in die Hand geben wollen, die die EU zur Bewältigung der Herausforderungen braucht. Europa kann nicht liefern, solange Mitgliedstaaten europäische Lösungen nur dann einfordern, wenn sie selbst davon entlastet werden, sie in anderen Bereichen aber verwässern oder torpedieren. Diese politische Doppelbödigkeit rächt sich nun.

In der Flüchtlings- und Migrationskrise wird das nur allzu deutlich. Deren Ursachen, Krieg in Syrien und Armut in Afrika, kann die Europäische Union nur gemeinsam begegnen. Die Gemeinschaft ist mit Herausforderungen konfrontiert, die die Kapazitäten einzelner Mitgliedstaaten zweifelsfrei übersteigt.

Gleichzeitig haben wir über ein Jahr gebraucht, um auch nur Ansätze einer gemeinsamen Migrationspolitik – vom gemeinsamen Schutz unserer Außengrenzen über eine fairere Lastenverteilung zwischen den Staaten, einer Angleichung unserer Asylverfahren bis hin zur Stärkung der inneren Sicherheit zu verwirklichen. Dass vielen Menschen damit ein Gefühl der Ohnmacht vermittelt wird anstatt das Vertrauen in die Europäische Union zu steigern, liegt auf der Hand.

Das in Großbritannien herbeigeführte Brexit-Votum kam angesichts der europaweiten Vertrauenskrise zur Unzeit. Doch aus dem Volksentscheid zu schließen, dass die Europäische Union - als angeblicher Auslöser eines hausgemachten Problems - nun von Grund auf reformiert oder gar als Sündenbock an den Pranger gestellt werden müsse, ist nicht nur weit hergeholt sondern stellte die Handlungsfähigkeit Europas für längere Zeit in Frage.

Anstatt aber Europa in Frage zu stellen, müssen wir gemeinsam sicherstellen, dass es seinen Bürgern konkrete Resultate in gezielten Bereichen liefert. Wenn wir von einem Wir-Gefühl sprechen, müssen wir ein Wir-Verhalten einfordern.

Wir brauchen kein andauerndes internes Händeringen, sondern gemeinsames Handeln – gerade mit Blick auf die unmittelbare Umgebung Europas. So haben die Mitgliedsstaaten der EU einstimmig allen Ländern des Westlichen Balkans eine konkrete Beitrittsperspektive in Aussicht gestellt, die nach wie vor steht - nicht, weil wir hier eine diplomatische Form der Sozialarbeit praktizieren, sondern weil Stabilität und Sicherheit vor unserer Haustür im Interesse Europas sind. Eine europäische Perspektive ist der Transmissionsriemen für notwendige Reformen und dieBekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität in einer nach wie vor fragilen Region.

Ähnlich verhält es sich in der östlichen und südlichen Nachbarschaft Europas, wo wir im Rahmen der reformierten Europäischen Nachbarschaftspolitik maßgeschneiderte Lösungen erarbeiten, um auf die Erwartungen und Hoffnungen der betroffenen Staaten einzugehen - ohne ihnen aber einen Beitritt in Aussicht zu stellen. Vielmehr geht es um eine Teilhabe an einer Art Europäischem Wirtschaftsraum (Norwegen-Lösung) oder die engst mögliche bilaterale Anbindung mit Rechten und Pflichten an die EU von Staaten wie der Ukraine als Alternative zur Vollmitgliedschaft.

Die Gravitationskraft der Europäischen Union hat klar stabilisierenden Charakter, sowohl in politischer als auch wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht. Sie ist außerdem umso größer je enger die Beziehungen sind.

Allerdings ist diese Gravitationskraft keine physische Konstante, sondern davon abhängig, wie intelligent wir sie einsetzen und wie glaubwürdig wir innerhalb der Europäischen Union mit unseren Werten umgehen. Ein schlampiger Umgang mit rechtsstaatlichen Prinzipien, wie wir ihn in manchem Mitgliedstaat erkennen, erschwert die Überzeugungsarbeit für rechtsstaatliche Reformen in unserer Nachbarschaft.

Niemand sollte der Illusion verfallen, dass ein dauerhafter Erweiterungsstopp oder eine Politik cooler Nachlässigkeit gegenüber der Nachbarschaft die Herausforderungen Europas lösen würde. Im Gegenteil: Die Flüchtlingskrise zeigt doch, dass die EU auf die Kooperation mit seinen Nachbarn unmittelbar angewiesen ist - und umgekehrt. Extremismus, Terrorismus, organisierte Kriminalität oder auch Korruption und Migration stehen im direkten Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung eines Landes. Herausforderungen wie diese können wir nur lösen, wenn wir das Problem an der Wurzel packen und eine proaktive gemeinsame Außenpolitik verfolgen.

Dabei muss die Notwendigkeit der Konsolidierung der heutigen EU beachtet werden. Denn es gilt, die Gemeinschaft funktionsfähig zu halten und die Bürger mitzunehmen.

Eine enge Anbindung an die Europäische Union und den Genuss der Vorteile des weltgrößten Binnenmarkts gibt es aber nicht zum Nulltarif, weder für Erweiterungs- und Nachbarschaftsländer noch für Länder wie die Schweiz oder Norwegen - und zukünftig vielleicht auch Großbritannien. So haben beispielsweise Norwegen und die Schweiz 2014 mehr als 3,8 Milliarden Euro an Beitragszahlungen in den EU-Haushalt geleistet. Volle Personenfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit sind Grundbestandteil von Paketlösungen mit der Europäischen Union - ohne dass Staaten aber notwendigerweise unmittelbar an den Entscheidungen der EU teilnehmen zu können. Dieser Maßstab wird zweifelsfrei auch an Großbritannien anzulegen sein.

Kurzum: Die europäische Vertrauenskrise kann nur meistern, wer unserer Union die richtigen Instrumente zum Globalisierungsmanagement in die Hand gibt, anstatt sie als billigen Sündenbock zu missbrauchen. Das gilt gerade auch für die internationale Bühne: Hier muss die Union geeint und proaktiv auftreten, vor allem auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, um für Stabilität und Ordnung zu sorgen. Ein möglicher Brexit darf hierbei keine Ablenkung sein, sondern kann im besten Fall sogar zu einer Re-Fokussierung beitragen.