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Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?

Von Heinz Kienzl

Gastkommentare
Heinz Kienzl war Generaldirektor der Oesterreichischen Nationalbank. Foto: privat

Jede Zeit braucht ihre eigene Gesetzgebung.


Der deutsche Jurist Julius Hermann von Kirchmann, preußischer Generalstaatsanwalt, stellte 1848 fest, dass - im Gegensatz zu den Naturwissenschaften - der Gegenstand der Jurisprudenz, also die Gesellschaft, sich dauernd verändere, die Schwerkraft aber unverändert bleibe. Die Gesetzgebung Solons im alten Athen war für seine Gesellschaft und seine Zeit passend, für das Preußen von Kirchmanns Zeit aber untauglich.

Aufgabe der Jurisprudenz ist es, ein Regelwerk zu schaffen, das ein ersprießliches Zusammenleben der Menschen erleichtert. Diese Überlegung sollte man auch für internationales Recht und internationale Regeln gelten lassen. Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde 1951 unterzeichnet, damals lebte Josef Stalin noch, der Kalte Krieg war im vollen Gange, und so war die Konvention gedacht für Flüchtlinge aus dem Bereich der Sowjetunion und noch in Erinnerung an die Gräueltaten der Nazis.

1956 flüchteten dann tausende Ungarn nach Österreich, 1968 tausende Tschechen. Diese Flüchtlingswellen konnten leicht bewältigt werden, aus Tschechen kann man im Handumdrehen Wiener machen, was für Tschetschenen leider nicht so gut geht. Daher sind aufgrund der geänderten Umstände alte völkerrechtliche Grundsätze nicht mehr anwendbar. Eine vorausblickende politische Führung hätte, statt der umfassenden Willkommenskultur, differenzieren müssen. Statt alle, die gekommen sind, aufzunehmen, hätte man Familien und Frauen mit Kindern bevorzugen müssen, die viel eher ein Recht auf Hilfe haben, als junge Männer, die sich leichter durchschlagen können. Und man hätte mithilfe der Europäischen Union ihre zerstörten Städte wieder aufbauen könnten, wie wir es nach dem Zweiten Weltkrieg - unterstützt durch den Marshall-Plan - auch konnten.

Langsam kommen die Beobachter der Zustände in Afrika drauf, dass von dort eine noch viel größere Flüchtlingsbewegung zu erwarten ist. Die Behauptung von des britischen Nationalökonomen Thomas Robert Malthus, dass sich die Bevölkerung mit der dritten Potenz vermehre, die Nahrungsmittelproduktion aber nur mit der zweiten Potenz, hat sich in Großbritannien zwar nicht bewahrheitet, aber in Afrika ist das die aktuelle Situation.

Aufgerufen ist die Europäische Union, gemeinsame Lösungen für dieses Problem zu finden, was einzelne EU-Staaten überhaupt nicht können, weder Großbritannien noch Deutschland oder Italien. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, welche katastrophalen Entwicklungen auf die EU-Staaten zukommen würden, wenn Millionen aus Afrika vor dem Hunger fliehen.

Man kann auch vom Großen aufs Kleine schließen, zurückkommend auf Kirchmann: 1927, in einem Bürgerkriegsland, wie es Österreich damals war, hat der Verfassungsgerichtshof eine für die damalige Zeit und die damalige Gesellschaft passendes Urteil gesprochen. Angeblich haben sich unsere Verfassungsrichter beim Beschluss zur Wiederholung der Bundespräsidentschaftsstichwahl an dieser Erkenntnis aus dem Jahr 1927 orientiert. Und das in unserer friedlichen, florierenden, zwar ein bisserl schlamperten, dennoch gut funktionierenden Zweiten Republik.