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Ein guter Hausvater kann auch pokern

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare
Clemens M. Hutter war Chef des Auslandsressorts bei den "Salzburger Nachrichten".
© privat

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält sich an das Jahrhunderte alte Rezept eines patriarchalischen Haushalts: Der Vater setzt mit seinem Kodex Disziplin und Ordnung im Haus durch. Und er regelt die Beziehungen mit den Nachbarn so, dass er nie klein beigeben muss. Eben erst scheiterte ein innerfamiliärer Aufstand gegen den Hausvater blutig, und dieser ließ Rebellen und Unbotmäßige festnehmen und obendrein den Kodex der Hausordnung drastisch verschärfen. Mehr denn je ist es strafwürdig, den Hausvater zu beleidigen.

Der Hausvater wacht auch penibel darüber, dass die Geschichte seiner Familie nach seinen Vorstellungen geschrieben und gelehrt werde. Nun hatten aber die Deutschen die Stirn, die Massenmorde unter Armeniern vor 100 Jahren als Völkermord zu qualifizieren. Immerhin gaben die Vorfahren des Hausvaters mehrfach zu, dass damals 600.000 Armenier umgebracht wurden. Also legte der erzürnte Hausvater den Deutschen nahe, sich endlich um den Holocaust zu kümmern. Damit die Deutschen den Ernst der Lage begriffen, verbot der Hausvater deutschen Parlamentariern, jene deutschen Piloten zu besuchen, die von Incirlik aus Angriffe gegen syrische Terrorbrigaden fliegen.

Retourkutsche gegenÖsterreich in Ephesos

Und dann kam’s sogar noch dicker: Österreich schlug vor, die Verhandlungen mit dem Hausvater über die Aufnahme in eine kontinentale Großfamilie auszusetzen. Also schickte der Hausvater jene österreichischen Archäologen heim, die in Ephesos die 1895 begonnene Ausgrabung dieser antiken Weltstadt fortgesetzt haben. Doch ziemlich absonderlich für einen Mann, der sich sonst so geschichtsbewusst, patriotisch und um die Ehre seines Hauses besorgt gibt.

Die Erfahrung bestätigt, dass mit einem so selbstbewussten Herrn schlecht Kirschen essen ist. Er wünscht nämlich, dass seine Hausgenossen endlich ohne Visa das europäische Haus bereisen dürfen. Dafür bietet er an, wie auf dem Basar üblich, Flüchtlinge nur gering dosiert nach Europa weiterreisen zu lassen, damit dieses Europa nicht mit Menschenmassen überschwemmt werde. Das freut jene rechtspopulistischen Angsthasen, die befürchten, dass das "christliche Abendland" systematisch islamisiert werde.

Nun streitet aber dieses christliche Abendland beharrlich darüber, wie man die Flüchtlinge fair auf die einzelnen Häuser verteilen könne. Ehemals kommunistisch möblierte Häuser verweigern überhaupt die Aufnahme, weshalb sie der türkische Hausvater für liebenswerte Nachbarn hält, weil sie auf die übrigen Nachbarn Druck ausüben. Ob das die Visafrage erleichtert?

Freundschaftliche Bande zum strengen russischen Hausvater

Weil gute Nachbarschaft auch dem eigenen Hausfrieden wohltut, knüpft der Hausvater in Ankara mit dem strengen Hausvater an der Moskwa trotz unterschiedlichen Glaubensbekenntnisses und des Abschusses eines streunenden Flugzeugs freundschaftliche Bande. Viele Feinde mögen viel Ehre bedeuten, sind aber auch riskant und kostspielig. Daher ist es durchaus zweckmäßig, Zäune vor Nachbars Garten abzubauen.

Das europäische Haus findet das nicht lustig, denn der Hausvater in Ankara kann locker pokern: Visafreiheit oder Schluss mit dem Bremsen des Flüchtlingsstroms. Da sind die in das europäische Haus abgewanderten Kinder sehr wertvoll. In dieser mit Meinungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit gesegneten Zone können sie ihren Hausvater unterstützen. Dabei fragt der Hausvater erst gar nicht, warum seine Kinder lieber in der Fremde statt daheim leben. Es reicht, dass sie für die nationale Ehre des Hausvaters eintreten und zudem jene denunzieren, die den Hausvater beleidigen.

Was also in dieser Zwickmühle tun? Am besten das, was Willy Brandt, Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher ostpolitisch taten: Beharrlich verhandeln über die Kluft zwischen gegensätzlichen Ideologien hinweg - bis im Jahr 1989 die Berliner Mauer einstürzte und der Eiserne Vorhang verschwand.

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Clemens
M. Hutter

war Auslandsressortchef bei den "Salzburger Nachrichten".