Antworten auf Vorkriegseuropa
Sie übertragen ein Stück Souveränität auf diese Institutionen, kooperieren in gegenseitiger Achtung, gehen ehrlich miteinander um, entwickeln die Ziele fort und respektieren die geschlossenen Vereinbarungen. Über den Buchstaben des gemeinsamen Rechts hinaus verhalten sie sich solidarisch, verlässlich und zuverlässig. Diese Europa-Idee - in der Geschichte gab es schon früher andere - enthält die Antworten auf die konfliktreiche Art und Weise, wie Europas Staaten miteinander handelten, bis sie sich in zwei Weltkriege hineinmanövrierten.
Die Europa-Idee der zweiten Hälfte der 1940er Jahre wurde von einer starken emotionalen Hinwendung zu Europa und seiner Einheit und Einigkeit getragen. Es waren die Bürger, die sie trugen, und die Politik (der freien westlichen Staaten) wusste sich davon gestützt und bestätigt. 2016 ist es schwierig, emotionale Bindungen an Europa zu spüren, das an sich mehr als die EU ist, aber im Wesentlichen doch durch die EU dargestellt wird. Das humanitär-großzügige Herangehen eines geeinten Europas an die Flüchtlingskrise hätte positive Emotionen erwecken können, aber genau das Gegenteil ist der Fall.
"Starke Männer" als Vorbilder
Warum? Schon seit mehreren Jahren hat sich zunächst noch bei einer Minderheit eine ganz andere Europa-Idee entwickelt, die im historischen Vergleich nicht anders als anti-europäisch zu bezeichnen ist. Am unmissverständlichsten drückt sich Ungarns Premier Viktor Orbán aus, der einen radikalen Gegensatz zwischen christlichem Abendland und Islam konstruiert und daraus eine brutale Abgrenzungspolitik ableitet, die nationalistisch, autoritär, fremdenfeindlich, wenn nicht rassistisch, gegenüber Menschen in Not herz- und gefühllos, also unchristlich, ist und mit anti-demokratischen Eingriffen ins eigene Land unterfüttert wird.
Orbán trifft damit den Ton vieler Menschen in allen EU-Staaten, wobei "viel" in Mehrheitsverhältnissen gedacht real eine Minderheit bleibt. Mit allerlei Varianten ziehen sich seine Grundpositionen durch die rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien. Das "Sagbare", das die Kriegserfahrungen und die Europa-Idee der Nachkriegszeit mit besten Gründen unsagbar machten, wird Tag für Tag wieder erweitert. Das Wahlrecht für Schwerstbehinderte soll "begutachtet" werden. Flüchtlinge sollen an den Grenzen zurückgewiesen werden bis hin zum Schusswaffengebrauch. Humanitarismus, auf den Europa so stolz ist, soll gesetzlich ‚oberbegrenzt‘ werden. Eiserne Vorhänge werden hochgezogen. Der Begriff "Identität" wird zur Wortfestung ausgebaut, aus der heraus verbal tödlich geschossen wird. Welche Folgen das hat, konnte am Brexit-Votum, am Wahlkampf davor und an den Hassattacken bis hin zu mindestens einem Fremdenhassmord an einem polnischen "EU-Ausländer" (in Harlow in Ostengland in diesem September) live beobachtet werden.
Die "starken Männer" Wladimir Putin und Donald Trump sind plötzlich wieder Vorbilder, eine neue Russophilie ist entstanden, die nichts mit Liebe zur russischen Kultur zu tun hat, sondern mit Bewunderung dafür, wie weit man heute inzwischen wieder mit Gewaltausübung - was etwas anderes ist als die Ausübung legitimer Staatsmacht - kommen kann.