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Gefühl ist die neue Realität

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien.
© Daniel Novotny

Am ungarischen Referendum zeigte sich die postfaktische Wahrheit.


Haben Sie auch das Gefühl, alles liege im Argen? Also wenn Sie jetzt aus dem Fenster schauen, dann sieht es vielleicht nicht wirklich, nicht ganz danach aus. Aber dennoch. Irgendwie. Das Gefühl lässt sich nicht abweisen, wie es Gefühle eben so an sich haben. Die sind hartnäckig, die Gefühle. Und man soll ihnen nicht mit Beweisen kommen. Die sauberen Straßen, die Müllabfuhr, der Sozialstaat. Bei der gefühlten Realität ist es wie bei der gefühlten Temperatur. Das Thermometer mag Wärme anzeigen - das gefühlte Frieren ist wahrer. Es gibt ein neues Wort für diesen Zustand. Das Wort heißt "postfaktisch". Wenn Sie also das Gefühl haben, alles liege im Argen, dann sind Sie angekommen. Mitten im politischen Geschehen.

Nehmen wir etwa das Referendum der ungarischen Regierung zur "Zwangsansiedlung" von Flüchtlingen, wie die EU-Verteilungsquote dort genannt wird. Das Referendum hat das nötige Quorum von 50 Prozent Beteiligung deutlich verfehlt und war demnach ungültig. Viktor Orban aber sprach von einem "großartigen Sieg".

Postfaktisch hat er recht. Denn der Nationalismus, den das Referendum beschwören sollte, ist ein Nationalismus neuer Art. Die Nation war immer schon eine "imagined community" (Benedict Anderson). Eine vorgestellte Gemeinschaft. Aber es war eine Vorstellung, die reale Gegebenheiten, institutionelle, politische, begleitet hat. Heute hingegen erleben wir das Auftauchen eines Nationalismus neuer Art - das Auftauchen einer postfaktischen Nation. Also einer Nation, die sich jenseits des Faktischen - jenseits von institutionellen oder politischen Gegebenheiten - behauptet. Ein Nationalismus, der unberührt vom Einspruch der Realität bleibt. Dieser gegen und jenseits der Fakten situierte Nationalismus hat nur ein Medium, in dem er sich realisiert: im Gefühl. Als gefühlte Nation. Gefühl ist die neue Realität. Und wenn man sich ansieht, welches Gefühl der Königsweg zu dieser Nation ist, dann ist es eindeutig die Erregung. Es ist Wut, es ist Hass, es ist Angst - aber grundlegend ist es Erregung. Ein erhöhter Tonus.

Die neue Nation ist also eine Erregungsgemeinschaft. Das ist das Verbindende, das Gemeinsame, ja das Ansteckende. Hier, in der Erregung finden sie zueinander. Deshalb muss der Pegel der Erregung konstant hochgehalten werden. Deshalb ist das Hauptziel der neo-nationalen Politik, das Emotionsniveau zu halten. Und genau das ist in Ungarn gelungen. Das ist Orbans "großartiger Sieg" - die Erregungsgemeinschaft. Postfaktische Politik - wir kennen das auch hierzulande ja nur zu gut - ist Politik, die an faktische Politik nur angelehnt ist. Worin besteht diese Anlehnung? Sie besteht darin, faktische Politik zum Anlass zu nehmen. Zum Anlass für immer neue, immer wieder aufflammende Erregung. Alles kann zum Anlass werden.

Aber diese neue Art von Politik ist nicht nur emotional, dieser neue Nationalismus ist nicht nur postfaktisch. Er schwebt nicht nur in Gefühlswelten. Er erzeugt vielmehr auch ganz handfeste Fakten. Postfaktische Politik ist also zugleich auch präfaktische Politik. Vom Brexit bis zur flüchtlingsfreien Zone. Und das ist die wahre Bedeutung vom Gefühl als neuer Realität.