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Die Grenzen eines organisierten Europa

Von Marcel Schütz

Gastkommentare
Marcel Schütz ist derzeit Gastwissenschafter der Wirtschaftsuniversität Wien. An der Universität Oldenburg (Deutschland) forscht er zu Reformprojekten in Banken, Firmen und politischen Organisationen (www.marcel-schuetz.net).
© privat

Je weniger in der EU geschieht, desto mehr wird darüber diskutiert, was geschehen müsste - und doch nicht kann.


Nach dem jüngsten Gipfel in Bratislava sind sich viele Beobachter einig: Endlich komme die "Erneuerung" der Europäischen Union in Gang. Gar Republik könne sie werden, demokratischer und mit mehr Beteiligung. Unisono wird die Krise der EU beklagt, doch strukturelle Besonderheiten des Staatenbundes kommen wenig zur Sprache. In der Forschung werden Gebilde wie die EU als "Metaorganisationen" beschrieben. Deren Mitglieder sind wiederum selbst Organisationen oder Staaten, nicht aber Menschen. Ob Wirtschaftskammer Österreich, Wiener Bankenverband, Fifa oder EU: Metaorganisationen verbindet das Interesse an Interessenvertretung.

Doch die Bündnisse sind auf ihre überschaubar vielen Mitglieder angewiesen. Weil alles auf Konsens ankommt, gibt es keine Hierarchie.

Die Zwecke bleiben allgemein und es bilden sich interne Allianzen.

Ausschlusswege gibt es kaum oder gar nicht. Die Ironie: Gerade weil sich an dieser Kompromisslage nur wenig ändern kann, wird dauerhaft das Gegenteil beschworen. Je weniger geschieht, desto mehr wird darüber diskutiert, was geschehen müsste - und doch nicht kann.

Die EU ist mit altbekannten Vorwürfen konfrontiert. Sie funktioniere bürokratisch und überreguliere die Mitgliedsländer. Weiters bestehe ein Demokratiedefizit. Zwischen den Nationen und Brüssel bleibe die Legitimation auf der Strecke.

Was dabei übersehen wird: Detailregulierung ist Ersatzaktivität des Apparats angesichts des Problems, ansonsten kaum kapitale Beschlüsse erzielen zu können. In puncto Demokratie-Defizit liegt das Gegenteil nahe: Ein Überschuss an Demokratie, der alles Entscheiden entscheidend von nationalen Entscheidungen abhängig macht, über die der Apparat selbst nicht entscheiden kann.

Rhetorisch geht es in der EU zwar um "die Menschen", weitaus mehr aber um globale Marktzugänge und völkerrechtliche Präsenz zwischen Amerika und Asien. Alleine Wirtschaftsstärke, Freizügigkeit und Friedenssicherung zählen. Und die sogenannte Unionsbürgerschaft der Bevölkerung ist faktisch eine fingierte. Individuen können in Metabündnissen keinen direkten Mitgliedstatus erlangen, sie sind Bürger allein ihrer Staaten. Metaorganisationen haben gerade den Effekt, von Individuen unabhängig zu werden. Distanz ist nicht falsch oder richtig, sondern unvermeidbar.

Was können demnach Reformen dort leisten, wo alles Entscheiden auf einem Minimalkonsens, ja auf Erpressungsversuchen der Mitglieder beruht? In den derzeitigen Reformerzählungen findet sich viel Gewissheit über die "bessere" Zukunft eines Bündnisses, die nicht sein kann, wie sie erwartet wird. Jede Reform der EU findet Unterstützer und erzeugt neue Konflikte, ja Paradoxien. Man wollte das eine und bekam dann doch das andere, das mit dem einen gemieden werden sollte.

Lohnt es nicht, bestehenden Zielkonflikte anzuerkennen, statt Reformen zu illustrieren, für die niemand die Rechnung bezahlt? Ein nicht eben geringes Problem scheint zu sein, dass man derzeit viel über Politik durch die EU diskutiert, damit aber wenig gesagt ist über jene in ihr selbst.