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Eine sündteure Placebo-Reform

Von Ernst Smole

Gastkommentare
Ernst Smole ist Musiker und Musikerzieher, war Berater der Unterrichtsminister Sinowatz, Zilk und Moritz und leitet seit 2006 den Nikolaus Harnoncourt Fonds in Wien.

750 Millionen Euro für Österreichs Ganztagsschulen - eine gut gemeinte Fehlinvestition?


"Ich kann meinen Unterricht den Schülern guten Gewissens nur einen halben Tag lang zumuten." Dieser Lehrer sagt selbstkritisch, was auch die "Belastungsstudie 2014" geoffenbart hat: Mehr als die Hälfte der Pflichtschullehrer gesteht ein, dass ihr Fachunterricht nicht starten kann, weil unlösbare Disziplinprobleme diesen verhindern. Von den schulischen Aufgaben Bildung und Erziehung findet oft Erstere gar nicht erst statt.

John Hatties wegweisende Metastudie und weitere Untersuchungen weisen nach, dass das Gelingen von Schule zu rund 80 Prozent von der persönlichen Unterrichtskunst der einzelnen Lehrperson abhängt. Systemfragen - Gesamtschule, Ganztagsschule etc. - bilden die viel diskutierten restlichen 20 Prozent.

Was fragen wir unsere Kinder, wenn sie von der Schule heimkommen? "Wie warst du heute mit dem Schulsystem zufrieden?" Nein - dies wohl nie! Wir wollen wissen, wie unsere Kinder heute mit den Lehrern "ausgekommen" sind. Umgekehrt fragen wir am Elternsprechtag nicht, ob sich unsere Kinder wohl brav in das Schulsystem eingliedern - uns interessiert die gelingende Unterrichts- und Lernbeziehung unserer Kinder zu den einzelnen Lehrpersonen.

Das Teilmisslingen der Volksschule zum Beispiel ist dramatisch. Nahezu 40 Prozent der Volksschulabsolventen erfüllen in zumindest einer Grundkompetenz - Lesen, Schreiben, Rechnen - nicht die Mindestanforderungen. In den Zeugnissen schlägt sich dieses Versagen nicht nieder, denn das "Notendumping" verdeckt dies. Gut ein Drittel der Lehrer gibt dem Druck der Eltern nach und erteilt positive Noten für ungenügende Leistungen. Auch manch eine AHS-Empfehlung kommt auf diesem Weg zustande.

Ziel der Pflichtschule ist die Beherrschung der Grundkompetenzen in jenem Ausmaß, das weiterführende Schulen und das Berufs- und Privatleben verlangen - und die Befähigung, sich realistisch zu orientieren und entsprechend zu handeln. Dazu braucht es den gelingenden Unterricht - der zu rund 80 Prozent von der einzelnen Lehrperson abhängt.

Verbessert die Ganztagsschule den Unterricht? Nein - sie würde in zigtausenden Fällen lediglich "more oft the same", also noch mehr misslingenden Unterricht, noch mehr Schaden, noch mehr schulisches Unglück bedeuten.

Was ist zu tun? Den Lehrern muss geholfen werden, damit ihr heute so schwierig gewordener Unterricht wieder gelingt: regelmäßiges vertrauensvolles Feedback der Lehrer untereinander, an den Schwächen (!) des eigenen Unterrichts orientierte Fortbildung, eine wirklich neue (!) Lehrerbildung, die den funktionierenden Kontakt zwischen Lehrern und Schülern als wichtigste Grundlage für den Unterrichtserfolg erkennt. Dann hätte die Ganztagsschule eine solide, verantwortbare Grundlage.

"Ganztagsschule? Wenn wir ganztagstaugliche Schulen bekommen, auch Rückzugsräume für Lehrer und Schüler, ausreichende Mußezeiten für alle - gerne, da bin ich dabei!" Auch das hört man von Lehrern.

750 Millionen Euro für die Ganztagsschule ohne das Sichern des Gelingens des Unterrichts - das wären weitere Steuermillionen, die nicht bei den Schülern ankämen.