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Eine Welt im Chaos

Von Michael Gehler

Gastkommentare

Die heutigen Krisen haben ihre Ursachen in Versäumnissen der vergangenen Jahrzehnte.


Die Häufigkeit und Gleichzeitigkeit von Konflikten, Krisen und Kriegen haben in den vergangenen Jahren die Grenzen der Handlungs- und Steuerungsfähigkeit von Politik verdeutlicht. Die Interessengegensätze wurden seit dem "annus mirabilis" 1989 nicht geringer. Für den Historiker stellt sich zuerst die Frage, was zu dieser Unordnung der Welt geführt hat. An sechs Befunden zeigt sich, welche Ereignisse und Zäsuren ungenutzt geblieben und welche Fehler dabei begangen worden sind, wobei entlang der Chronologie erzählt wird:

1. Das Ausbleiben einer stabilitätsorientierten gesamteuropäischen Friedensordnung mit einer gemeinsamen Sicherheitspolitik mit Blick auf Südost- und Ostmitteleuropa nach 1989/90. Der Fall des Eisernen Vorhangs eröffnete völlig neue Perspektiven: Comecon und Warschauer Pakt hatten sich aufgelöst. Die Nato- und die erst danach folgende EU-Osterweiterung waren, so sehr diese auch von den Kandidatenländern gewünscht waren und friedlich realisiert wurden, ohne Russlands Anbindung weder ein Ersatz noch ein Garant für eine wirkliche und wirksame gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung. Ohne Einbeziehung Moskaus war Provokationspotenzial programmiert und nur eine Frage der Zeit. Durch Akzeptanz und Inkaufnahme einer Konfrontation mit Russland wurden Europas Selbstbestimmung verhindert und die Abhängigkeit von den USA noch verstärkt. Die drei neuen Balkankriege (Slowenien/Kroatien 1991, Bosnien 1992 bis 1995 und Kosovo 1999) waren auch Ergebnis eines sicherheitspolitischen Versagens der Europäer mit einer zwar beschlossenen, aber nicht vorhandenen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und ohne militärisches Eingreifen der USA beziehungsweise der Nato nicht so schnell zu beenden. Die 1996 aus der KSZE hervorgegangene OSZE erwies sich nur als eine zweite, noch schwächere UNO.

2. Die unterbliebene Reform der UNO ab 1991. Erstmals kam damals ein einstimmiges Votum im UN-Sicherheitsrat zustande, um eine "Polizeiaktion" gegen Saddam Hussein nach der irakischen Besetzung Kuwaits zu starten. Die Gunst des Augenblicks zur Neugestaltung der Vereinten Nationen unter Einbeziehung neuer globaler Akteure (G7, G8) blieb jedoch ungenutzt. Das starre Festhalten an der Nachkriegsordnung von 1945 mit den fünf ständigen Sicherheitsratsmitgliedern (USA, UdSSR, Großbritannien, Frankreich und China), die vor allem gegen Deutschland gerichtet war, erwies sich ebenso als entscheidendes Hemmnis für einen Neuanfang wie der Widerwille der etablierten UN-Mächte gegen den angesichts der geänderten Weltlage nötigen Reformweg.

3. Der ungelöst gebliebene Nahost-Konflikt; 1993 trafen sich PLO-Chef Jassir Arafat und Israels Premier Yitzhak Rabin mit US-Präsident Bill Clinton in Washington zum historischen Handschlag, doch die Chance zu einem dauerhaften Friedensschluss blieb ungenutzt. Die Ermordung Rabins durch einen jüdischen Rechtsextremisten war kein heilsamer Schock, Hardliner gewannen auf beiden Seiten die Oberhand. Anhaltend besetzte Gebiete, Mauerbau und Hamas-Terrorismus trugen nicht zur Überwindung des Dauerkonflikts bei, der ohne einen eigenen Staat für die Palästinenser unlösbar ist. Die USA waren und sind aufgrund ihrer traditionellen Parteinahme für Israel kein erfolgreicher Konfliktvermittler. Mit ihrer Invasion im Irak 2003 trugen sie nicht zur Befriedung, sondern noch zur weiteren Destabilisierung der Region bei.

4. Die versäumte Reform der EU-Institutionen und neue Probleme an den Rändern ab 2004/
2007. Die EU erlebte seit ihrer Begründung durch den Vertrag von Maastricht vier weitere (Amsterdam 1999, Nizza 2003, die gescheiterte "Verfassung" 2005 und Lissabon 2009) mit nur halben Lösungen (Währungs- ohne Wirtschaftsunion, Schengen ohne hinreichenden Außengrenzschutz, Europol ohne weitgehende sicherheitspolizeiliche Kooperation der Mitgliedstaaten etc.). Sie baut immer noch auf einer Organstruktur auf, wie sie für die sechs Gründer der Montanunion (1951) konzipiert war, gleichwohl sie heute 28 Mitglieder zählt. Das führt zu Blockaden und Lähmung zumal auch aufgrund gemischter Kompetenzlagen zwischen Union und Mitgliedstaaten. Hinzu kam, dass die Produktivitäts-, Wachstums- und Wettbewerbsunterschiede zwischen dem Süden und dem Norden Europas ignoriert oder unterschätzt wurden, was der tiefere Grund der Eurokrise war.

5. Das Versagen bei der Entwicklung einer neuen Weltfinanzordnung nach 2008. Der Lehman-Crash in New York war der Auslöser einer weltweiten Banken- und Finanzmarktkrise. Seit dem Zweiten Weltkrieg besaßen die USA die globale Leitwährung. Der Dollar ist immer noch ein Faktor der US-Macht, doch gab es unter Bill Clinton, George W. Bush und auch Barack Obama keine Anstrengungen für ein neues Bretton Woods (das 1944 in New Hampshire festgelegt worden war, aber seit den 1970ern nicht mehr funktionierte), also eine neue Weltfinanzordnung. Die USA begnügten sich nach dem Lehman-Desaster 2008 damit, die eigenen Banken rasch und wirksam zu stärken, und überließen den Rest der Welt sich selbst, was einer Aufgabe ihrer Rolle als globale Währungsordnungsmacht gleichkam. War es die Sorge vor Konkurrenz, Nachrangigkeit, die Schuldner-Position gegenüber China oder schlicht fehlender politischer Wille?

6. Die fehlende Steuerungsfähigkeit gegen die Überdehnung der EU sowie mangelnde politische Bereitschaft zur Überwindung der wieder stärker auflebenden Ost-West-Konfrontation ab 2014/2015. Der Kreis schließt sich mit den an den EU-Rändern virulent gewordenen Krisen (Griechenland, Brexit) und Kriegen (Syrien und Ukraine), die die Grenzen der europäischen Währungsintegration, der Zustimmungsfähigkeit sowie das Scheitern der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik der EU verdeutlicht haben. Es war schon ein Fehler, das geteilte Zypern (2004), aber auch die politisch korrupten und wirtschaftlich rückständigen Länder Bulgarien und Rumänien (2007) aufzunehmen, die weit weniger entwickelt sind als die Türkei. Diese hatte bereits seit 1997 eine "privilegierte Partnerschaft" (durch eine Zollunion) mit der EU, wie es herablassend genannt wurde und inzwischen aus dem Polit-Vokabular verschwunden ist - alles andere war unrealistisch und der Beitritt eine Phantom-Debatte. Die Bemühungen um eine Einbeziehung der Ukraine in die EU haben für eine neue Ost-West-Konfrontation gesorgt - weder war das Land zur Aufnahme befähigt noch die EU dazu in der Lage -, während in Syrien neben dem verheerenden Bürgerkrieg ein klassischer Stellvertreterkrieg tobt, der wahrscheinlich erst dann enden wird, wenn ein völliger Erschöpfungszustand erreicht ist.

Fünf Lehren aus diesen "anni miserabiles" seit 1989 liegen auf der Hand:

1. Solange die EU auf Sanktionen beharrt und dagegen kein substanzielles Wirtschaftsarrangement mit Russland für dessen Verzicht auf Destabilisierungs-, Interventions- und Repressionspolitik gegenüber seinen Nachbarstaaten bietet, wird es keine dauerhafte Friedens- und Sicherheitsordnung für ganz Europa geben. Der Ukraine bleibt sicherheitspolitisch keine andere Wahl als Allianz-Freiheit und eine handelspolitisch-ökonomische Orientierung sowohl in Richtung EU als auch nach Eurasien (nicht zuletzt aufgrund ihrer Landwirtschaftsexporte). Russland wird andere Lösungen nicht tolerieren, zumal es sich vor Chinas Bedrohungs- und Wachstumspotenzial relativ sicher weiß, dessen Konzentration ganz der Verdrängung der militärischen Präsenz der USA aus Südostasien gilt, wofür die Führung in Peking auch kriegerische Handlungen ins Kalkül zieht.

2. Eine Stärkung der UNO kann nur durch einen globalen Interessenausgleich erfolgen. Eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in der Welt (KSZW) mit fünf Körben zu Armuts-, Energie-, Migrations-, Menschenrechts- und Umweltfragen wäre nicht nur eine Perspektive, sondern auch ein gangbarer Weg, um neben Armuts- und Hungerbekämpfung und Konfliktprävention auch dem globalen Terrorismus den Nährboden zu entziehen.

3. Eine KSZW und die UNO müssten sich gemeinsam mit den G20 verstärkt dem Nahost-Problem und der Syrien-Frage widmen und durch massiven Druck auf die Konfliktparteien Abrüstung, entmilitarisierte Zonen und Waffenlieferungsverbote durchsetzen. Das allein wird allerdings nicht ausreichen: Nur durch ein regionales Handels- und Wirtschaftsintegrationsprojekt als politisches Befriedungskonzept kann dieses schwerwiegende Weltproblem gelöst werden.

4. Die EU wird ohne durchgreifende Vertragsänderungen zumindest durch liberalere und offenere Vertragsauslegungen im Sinne konsequenter Mehrheitsentscheidungen und vor allem durch Vertragstreue seitens der Mitglieder weder handlungsfähig sein noch glaubwürdig bleiben. Das Vereinigte Königreich war kulturell und mental nie am Kontinent angekommen, geschweige denn zu Hause. Der Brexit ist eine historisch-logische Konsequenz. Der britische Rückzug auf eine Efta-deluxe-Position im Rahmen des EWR unter Akzeptanz der Arbeiternehmer-Freizügigkeit ist eine denkbare Zukunftsoption, die der EU-Motor für überfällige Reformen sein und mittel- und langfristig neue supranationale Vertiefungschancen eröffnen sollte.

5. Eine neue Weltfinanzordnung alleine reicht nicht aus. Sie müsste auch mit einer effektiveren Welthandelsordnung Hand in Hand gehen, wobei ein globaler Schuldenerlass nötig wäre. Ein solches Regelwerk müsste zudem sicherstellen, dass marode Banken nicht mehr durch Steuergeld saniert und gleichzeitig Spitzenbanker mit sittenwidrigen Boni honoriert werden können.

All das sind sehr fromme Wünsche, die so schnell nicht erfüllt werden können. Die Welt wird weiter brüchig und ungeordnet bleiben, zumal die Entwicklungen Chinas, Russlands und der USA nichts Gutes verheißen: Statt Lösungen für ihre gewaltigen inneren Probleme zu realisieren, lenken sie nach außen ab und bekriegen einander wechselseitig. Das Bewusstsein von einer Weltgesellschaft ist nur sehr bescheiden und eine gemeinsam koordinierte Weltpolitik schon gar nicht vorhanden, zu sehr dominieren noch nationale Sonderinteressen. Nicht zuletzt ist auch die EU zu sehr mit sich selbst beschäftigt als ihrer Verantwortung für eine bessere Welt wahrzunehmen.