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Europa reformieren, nicht zerstören

Von Karl Aiginger

Gastkommentare

Für einen Erfolg wird die Einbindung von Reformpartnern und neuen Akteuren wichtig sein. Ansonsten droht das Friedens- und Wohlfahrtserfolgsmodell zu zerfallen.


Europa ist in keinem guten Zustand. Dies hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker selbstkritisch angemerkt. Amerikaner sprechen von einem "failed project", Chinesen betrachten Europa als Landschaft mit Museen. Die Briten haben den Brexit gewählt, rechte und linke Populisten warten auf den günstigsten Zeitpunkt für Austrittsreferenda und bewundern gemeinsam den wachsenden Einfluss Russlands. Die Flüchtlingswelle wird nicht durch aktive Politik in den Nachbarländern gestoppt, sondern durch Zäune und Auffanglager. Menschen, die "durchkommen", werden weder fair verteilt noch in den Arbeitsprozess oder das Bildungssystem integriert, obwohl Europa die Migration langfristig wegen der Alterung braucht.

Dabei ist Europa ein Erfolgsmodell. Die EU hat - ausgehend von sechs Staaten - derzeit 28 Mitglieder, zehn weitere passen ihre Strukturen an, um die Beitrittschancen zu erhöhen. Europa ist ein Friedensmodell auf einem Kontinent, in dem es immer kriegerische Konflikte gab. Der Euro ist stärker, als es die USA wünschen, und eine gute Anlagemöglichkeit.

Heute stehen wir vor dem Problem, Europa zu verbessern und zu reformieren oder dem Zerfall dieses Friedens- und Wohlfahrtsprojektes zuzusehen. Reformziele und -motoren analysiert die Reformstrategie "WWWforEurope", die unter der Führung des Wifo für die Europäische Kommission entworfen wurde. In allen Diskussionen nach der Projektvorstellung in Brüssel und New York dominiert die Frage, warum diese Strategie bisher auch nicht ansatzweise umgesetzt wurde. Daher konzentrieren wir uns auf Umsetzungsbedingungen von erfolgreichen Reformen.

Integrierter Ansatzstatt Silo-Strategien

Viele Reformprogramme - so auch Europa 2020 - betrachten die einzelnen Ziele isoliert. Verschiedene Ziele können aber nur dann erreicht werden, wenn sie auch simultan verfolgt und Synergien vorweg gesucht werden. Will man Nachhaltigkeit durch eine hohe Besteuerung von Energie und Emissionen erreichen, wehrt sich die Industrie mit Erfolg und auch die Gewerkschaften sind dagegen, da niedrige Einkommen von einer Energiesteuer überproportional belastet werden. Senkt man jedoch gleichzeitig die Lohnsteuer (besonders die Abgaben für Niedrigeinkommen) und forciert Forschung, so profitiert die Industrie bei den Faktoren, die für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit entscheidend sind. Die Ziele einer Reform, mehr Dynamik, weniger Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Emissionen werden in einem integrierten Ansatz erreicht und niemand wird gegen die Reformen lobbyieren.

Die Geschichte zeigt, dass Reformen gegen den Widerstand von Interessensgruppen wie Industrie, Sozialpartner, Pensionisten oder auch Ärzten und Lehrern nicht durchgeführt werden können. Die Politik muss - gestützt auf Experten - die Ziele der Reform vorgeben. Bei der Implementierung muss eine Strategie gewählt werden, die den Widerstand der betroffenen Gruppen mildert.

Besonders wichtig ist es, die Jugend, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und MigrantInnen zum Mitwirken zu bewegen. Tiefgreifende Reformen haben immer neue Akteure hervorgebracht oder wurden von diesen gestützt.

Kommunikationund Konsistenz

Reformnotwendigkeit und -ziele müssen kommuniziert werden, damit Einwände in Relation zum Gesamtvorhaben gesehen werden. Es muss verstanden werden, welche Nachteile eintreten, wenn Reformen unterbleiben.

Die Reform darf nicht durch wechselnde Prioritäten zerstört werden. Wenn der Ausstieg aus fossiler Energie geplant ist, darf der Preis von Benzin und Diesel nie - auch nicht vorübergehend - niedrig sein. "Leistbarer" Wohnbau darf nicht unter dem Aspekt niedriger Errichtungskosten gesehen werden, sondern immer nach den Kosten für die volle Bestandsdauer. Die Ziele von Paris 2015 - Entkarbonisierung bis 2050 - müssen in allen Entscheidungen ihren Niederschlag finden. Wenn Diesel im Straßentest nie die vorgeschriebenen Grenzwerte erreichen kann, dürfen die Grenzwerte nicht erhöht werden. Der Umstieg auf neue Technologien muss mit Preisen, Anreizen und Verboten forciert werden.

Investitionenstatt Grenzzäune

Wenden wir diese drei Prinzipien auf die Flüchtlingsfrage an: Die neue Migrationswelle kann nicht durch eine isolierte "Strategie für Flüchtlinge" gelöst werden. Die Lösung muss eingebettet werden in eine Strategie Europas gegenüber seinem Nachbarschaftsgürtel. Hier wächst die Wirtschaft potentiell um 5 Prozent pro Jahr; dies ergibt einen nahen dynamischen Markt, aber nur, wenn es keine politischen Konflikte gibt. Um die Gefahr von Konflikten zu verringern, muss materiell und kulturell investiert werden, militärische Interventionen wie jene der USA im Irak und in Libyen müssen unterbleiben und die Generation des "Arabischen Frühlings" muss den Wiederaufbau tragen. Europa könnte mit UN-Unterstützung "Charter Cities" (Zitat Paul Romer) aufbauen oder Industrieparks in der Türkei, in Sizilien oder Spanien - wie es Sonderzonen zwischen Nord- und Süd-Korea gibt oder wie sie am Beginn des chinesischen Erfolgslaufes gestanden sind. Dann bleiben die Flüchtlinge großteils in der Nähe der Heimat und helfen beim Wiederaufbau.

Umverteilung und neue Technologien fördern Dynamik

Generell muss die Flüchtlingsfrage gemeinsam mit der hohen Arbeitslosigkeit gesehen werden. Europa muss seine Wirtschaft beleben, da bei Wachstum unter 2 Prozent weder die bisherigen Arbeitslosen noch die Flüchtlinge Arbeit finden. Die neue Dynamik soll nicht durch Bau von Autobahnen und Erhöhung staatlicher Ausgaben stattfinden, sondern bewusst den Ausgleich der Einkommensunterschiede als Turbo für den Konsum und Dekarbonisierung und Entrümpelung von Bürokratie als Turbo für Investitionen und Export nutzen. Gebäude, die wir heute errichten, stehen 2050 noch. Die prinzipielle Zustimmung der jüngeren Bevölkerung zu einem gemeinsamen Europa muss aktiviert werden.

Die Chancen sind gegeben, dass das 21. Jahrhundert trotz des ruppigen Starts das Europäische Jahrhundert wird. Das europäische Modell mit höherer Priorität sozialer und ökologischer Ziele ist für eine wohlhabende Region zukunftsträchtiger als das amerikanische. Es muss nur gelebt und besser umgesetzt werden. Hoffnung gibt uns Nobelpreisträger Kenneth Arrow (Stanford), wenn er betont, dass die mühsamen Prozesse in Europa verständlich sind, weil Europa die einzige große Region ist, die nicht durch Eroberung oder Besetzung leerer Räume entstanden ist, sondern durch demokratische Entscheidungen von Nationen mit Geschichte und erfolgreicher Vergangenheit.

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Buch "25 Ideen für Europa", das im Eigenverlag der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik erscheint. Kostenlose E-Book-Version unter: www.oegfe.at/25ideenfuereuropa