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Europa? Europa!

Von Christoph Leitl

Gastkommentare
Christoph Leitl ist Präsident der Wirtschaftskammer Österreich. Er war außerdem Präsident des Europäischen Handelskammerverbands "Eurochambers" und des Europäischen Wirtschaftsbundes "SME Union". Foto: WKO

Europa hat sich in der Integration immer nur dann weiterentwickelt, wenn es durch eine Krise angetrieben wurde.


Nur fünf Jahre ist es her, dass die EU mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Das europäische Einigungswerk habe "über sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen (. . .) und dadurch eine neue Ära der europäischen Geschichte eingeleitet", begründete das Norwegische Nobelpreiskomitee 2012 seine Entscheidung und mahnte zugleich, den Blick auf die "wichtigste Errungenschaft der EU" zu richten: "den erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte; die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens".

Wer sich das Europa der vergangenen Monate ansieht, stellt sich freilich die Frage, ob diese "neue Ära der europäischen Geschichte" schon wieder dem Ende zusteuert: Zuerst die Finanz- und Wirtschaftskrise mit anschließender Sozialkrise, die Griechenland-Krise, die beinahe mit dem Rauswurf aus dem Euro geendet hätte, die Konflikte von der Ukraine bis zum Mittleren Osten mit der Flüchtlingskrise als Ausfluss, bei deren Management von "europäischer Solidarität" wenig zu bemerken war, sowie - quasi als Höhepunkt - der Brexit.

Keine Frage: Europa hat schon einfachere Zeiten erlebt. Die Vergangenheit zeigte aber auch, dass sich Europa in der Integration immer nur weiterentwickelt hat, wenn es durch eine Krise angetrieben wurde. "Die Krise ist eine Chance" - gerade Europa hat immer die Gültigkeit dieses Stehsatzes bewiesen.

Europas Polykrise als Chance für einen Neubeginn nutzen

Der aktuellen Krisenstimmung möchte ich daher eine Stimme des Aufbruchs und die Suche nach kreativen, zukunftsorientierten Lösungen entgegensetzen. Immer mehr Menschen fragen: "Wofür brauchen wir eine EU?" Und: "Wohin geht Europa?" Die Verunsicherung ist massiv gestiegen. Zugleich zeigen Umfragen, dass von einer prinzipiellen Abkehr von Europa keine Rede sein kann, ja, sich eine klare Mehrheit - auch in Österreich - für gesamteuropäische Lösungen ausspricht: bei Euro, Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- oder Flüchtlingspolitik. Wir müssen Europa wieder als Vision sehen. Die Antwort auf die Eurosklerose der 1970er und 1980er war eine Weiterentwicklung der Union. Darum geht es auch heute. Europa braucht für neue Ziele eine neue Organisation. Die aktuelle EU ist am Ende ihrer Integrationskraft angelangt. Die Gemeinschaft ist heterogen in ihrer Struktur, tut sich institutionell schon aufgrund der rasch gewachsenen Zahl ihrer Mitglieder schwer, Konsens zu erzielen, und hat aber vor allem unterschiedliche Sichtweisen von Europa: Eine Gruppe sieht die Union als offene und freie Wirtschaftszone, eine andere als umfassendes Integrationsprojekt mit einer gesamthaften Strategie als Antwort auf die Globalisierung.

Konzentrische Kreise: Großer Europäischer Wirtschaftsraum und eine vertiefte Eurozone

Es ist unwahrscheinlich, in absehbarer Zeit tragfähige Brücken zwischen diesen beiden Konzepten zu finden. Das Motto "Niemanden zu etwas zwingen, aber auch niemanden an etwas hindern" und ein Denken in konzentrischen Kreisen könnten die Ausgangsbasis für einen Neubeginn sein. Auf der einen Seite könnte mit Großbritannien und Ländern wie Norwegen, die ebenfalls an einer engen Wirtschaftskooperation interessiert sind, ein größerer Europäischer Wirtschaftsraum (EWR) errichtet werden. Diese Wirtschaftszone könnte auch für Russland, die Türkei oder die Ukraine offen sein. Sogar der gesamte Mittelmeerraum wäre vom ökonomischen Potenzial, aber auch vom europaaffinen geistes- und kulturgeschichtlichen Hintergrund erfassbar. Mit potenziell einer Milliarde Menschen wäre diese Wirtschaftszone ein wichtiger Faktor in der globalisierten Wirtschaftswelt. Klar muss freilich auch sein, dass für den Zutritt zum europäischen Binnenmarkt - so wie von Norwegen schon jetzt - ein fairer und angemessener Beitrag zu leisten ist. Auch aus geostrategischen Erwägungen wäre ein größerer EWR wichtig, da eine neue Form von Partnerschaft, Solidarität und Stabilität entstünde. Denken wir nur an neue Lösungsperspektiven für den Nahostkonflikt oder neue Brücken von Europa nach Afrika oder Zentralasien.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat gezeigt, dass sich die Euroländer in einer besonderen Schicksalsgemeinschaft befinden. Daher ist eine noch engere Abstimmung innerhalb der Eurozone notwendig: insbesondere eine koordinierte, kontrollierte und sanktionierte Budgetpolitik, basierend auf einer strategisch orientierten Wirtschaftspolitik; eine klare Ausrichtung auf Innovation und Qualifikation; eine Investitions- und Wachstumspolitik durch Förderung der KMU. Abgesehen von diesen sachlich begründeten Integrationsschritten geht es um ein Europa, das nicht Schwäche, sondern Stärke signalisiert, das strategisch handlungsfähig ist.

Mit einer europäischen Föderation könnte die Zusammenarbeit nicht nur im ökonomischen, sondern auch im sozialen und ökologischen Bereich, in Fragen der Infrastruktur, Wissenschaft, Bildung und Innovation verstärkt werden. Der Vorteil des Modells der konzentrischen Kreise wäre, dass es Übergangsmöglichkeiten beinhalten und Wettbewerb, Wohlstand, Beschäftigung und sozialen Schutz, ökologischen Fortschritt sowie eine wirkungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik ermöglichen würde.

Eine Utopie? Nein, eine faszinierende Aufgabe für das 21. Jahrhundert, zu der jeder von uns einen Beitrag leisten kann. Dazu gehört auch eine direkte "Face-to-Face"-Kommunikation mit Europas Bürgern. Die Wirtschaftskammer Österreich stellt hier mit der "Aktion Europaschirm", bei der die Bevölkerung Ängste, Sorgen und Wünsche äußern und im Dialog mit EU-Experten Argumente austauschen und EU-Mythen aufklären kann, ein Best-Practice-Beispiel, das jüngst auch mit dem Europa-Staatspreis 2016 ausgezeichnet wurde.

Ich bin überzeugt, dass Europa alle Chancen hat, aus dieser Krise gestärkt hervorzugehen. Auf die Frage "Europa?" kann es nur eine Antwort geben: "Europa!"

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Buch "25 Ideen für Europa", das im Eigenverlag der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik erscheint. Kostenlose E-Book-Version unter: www.oegfe.at/25ideenfuereuropa