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Leise Stimmen im Jahr der Schreihälse

Von Katharina Moser

Gastkommentare
Katharina Moser ist Unternehmerin und Autorin. Ihre Agentur Mosaik (www.mosaik-agency.eu) will Europa positiv erlebbar machen, mit Projekten wie der Europareise "Route 28" (6. Mai 2017, www.route28.eu) oder dem Kartenspiel "Komm zu mir!". Foto: Andreas Edler/bz

Wir müssen nicht warten, bis etwas passiert. Wir können, dürfen und sollen uns selbst für positive Veränderungen einsetzen.


Was für ein Fazit soll man aus einem Jahr ziehen, das einem regelrecht in den Ohren dröhnt? Ein Jahr, in dem man sich beim Aufwachen mehr als einmal wieder zurück in die Welt von Gestern gewünscht hatte: eine Welt, in der Großbritannien noch Teil der EU sein wollte, die Vorstellung eines Präsidenten Donald Trump lediglich humoristische Spielwiese für Moderatoren amerikanischer Saturday Night Shows war und die populistischen Strömungen in Europa noch die Opposition darstellten.

Mit relativer Fassungslosigkeit musste man dieses Jahr den lautesten Schreihälsen dabei zusehen, wie sie die Bühne des Weltgeschehens betraten und dabei fast noch überrascht wirkten, dass ihre aggressiven Parolen Gehör gefunden hatten. Sie brüllten und brüllen immer lauter. Vielleicht ist es an der Zeit, dass auch die Schockierten nicht nur aufhorchen, sondern in Aktion treten. Denn an dieser Stelle kann man die Donald Trumps und Nigel Farages dieser Welt ausnahmsweise einmal beim Wort nehmen, wenn sie verkünden: "Ihr, die Bürger, und nicht das Establishment, entscheidet über euer Land und euer Leben!" Genau so ist es. Wir müssen nicht warten, bis etwas passiert. Wir können, dürfen und sollen uns selbst für positive Veränderungen einsetzen. Und dafür brauchen wir keine Schreihälse.

Mein Lieblingsbeispiel für Menschen, die das getan haben, sind zwei Freunde aus Berlin. Vor einem Jahr hatten sie mir begeistert von einer Idee erzählt, die visionär, aber ziemlich unrealistisch klang: Jeder EU-Bürger sollte zum 18. Geburtstag ein kostenloses Interrail-Ticket bekommen. Der Gedanke dahinter: Erst wenn wir alle - und nicht nur die Eliten - die Möglichkeit haben, Europa kennenzulernen, können wir eine europäische Identität entwickeln, die nichts Bedrohliches, sondern etwas Verbindendes darstellt.

Martin Speer und Vincent Herr arbeiten nicht bei der EU, sie sind normale Berliner Endzwanziger, die gerade ihr Studium absolviert haben. Heute sorgt ihre Initiative #FreeInterrail EU-weit für Schlagzeilen. Und dafür haben sie noch nicht einmal laut gebrüllt. Vielmehr haben sie über ihre Idee geschrieben. Ein einzelner EU-Abgeordneter hat einen Artikel gelesen und den Ausschlag dafür gegeben, dass die EU-Kommission aktuell ihr Erasmus-Plus-Programm um 50 Millionen Euro aufgestockt hat, um im Rahmen dieser Förderschiene einen Pilotversuch von #FreeInterrail umzusetzen.

Martin und Vincent sind nur ein Beispiel. Tatsächlich hat selten ein Jahr so gut gezeigt, was ein Einzelner schon allein mit seiner Stimme bewirken kann. Denn das sprichwörtliche "Euzerl" hat bei fast jeder brisanten Wahl 2016 mit einem nur minimalen Prozentsatz über den Ausgang entschieden. Wenn uns 2016 eine Sache gelehrt hat, dann die, dass jeder von uns zählt.

Es ist diese Tatsache, die uns in einem Jahr der Enttäuschungen Hoffnung machen sollte. Denn wir müssen nicht laut brüllen, um etwas Positiven zu bewirken. Oft reicht eine leise, aber bestimmte Stimme. Diesen Sonntag zum Beispiel. Kaum hörbar, mit einem Kreuz auf einem Wahlzettel.