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"Reißt diesen Tempel nieder"

Von Martin Rupprecht

Gastkommentare

Gastkommentar: Warum wir noch mehr Kirchen verschenken sollten.


In den vergangenen 40 Jahren hat sich die Zahl der Katholiken in Wien halbiert; ebenso die Zahl der Gottesdienstbesucher. Bei der inneren Reform der Kirche müssen wir uns ehrlicherweise auch fragen, was wir mit den vielen Gebäuden tun. 1972 gab es zum Beispiel im 15. Wiener Gemeindebezirk 68.700 Katholiken bei insgesamt 74.000 Einwohnern. 2016 sind es bei gleichbleibender Einwohnerzahl nur noch 21.000 Katholiken. Von den sieben Pfarrkirchen haben wir zwei an orthodoxe Kirchen abgeben können.

Das sind äußere Zahlen einer Umbruchzeit. Nicht nur gesellschaftlich, auch kirchlich. Der Abschied von der Volkskirche ist wohl eingeläutet; andererseits ist Kirche in sich immer im Umbruch, im Provisorischen, "semper reformanda", wie wir intern sagen. Als Pfarrer im 15. Bezirk, nach sechs Jahren Umgestaltung von vier Pfarren zu einer neuen Pfarre, nach 24 Priesterjahren seien mir einige selbstkritische Anmerkungen erlaubt.

Kirchlicher Wohlstand als positives Problem

Eines unserer kirchlichen Problemfelder ist der Wohlstand. Im materiellen Sinn ist es die Folge des Kirchenbeitrages. Es ist ein positives Problem. Alle profitieren davon, dass unsere Kirche alles hat: Kirchen, Pfarrzentren und Pfarrhäuser, Gehälter für die Priester, Sekretärinnen und alle kirchlichen Berufsarten. Unsere sozialen Dienstleistungen sind enorm: Allein in meiner Pfarre hatten wir 3000 Nächtigungen von Flüchtlingen innerhalb von acht Wochen. In der wöchentlichen Wärmestube verköstigen wir 50 Obdachlose. Ein gut ausgestatteter Pfarrsaal ermöglicht das alles. Wir können jederzeit Hochzeiten, Taufen und Gottesdienste halten. Zu jeder Stunde, Sommer wie Winter. Es ist fast wie mit der U-Bahn in Wien; wir freuen uns, dass sie sogar in der Nacht fährt, schließlich zahlen wir viel an Steuern. Sie ist nichts Besonderes mehr. Selbstverständlich.

In der Kirche hat der Kirchenbeitrag auch einen inneren Wohlstand zur Folge. Es gibt Gottesdienste zur Genüge, für alles und jedes Problem sind Spezialisten erreichbar. Allein für 26 verschiedene Spezialgebiete gibt es Seelsorgeverantwortliche in zentralen Büros: für Kinder- und Seniorenseelsorge, Blinde, Alleinerziehende, Feuerwehr und Polizei, Jugendliche, Alkoholkranke und vieles mehr.

Der Wohlstand ist gut. Ich sehe das durchaus positiv, aber er ist zugleich ein Dilemma, denn er verdeckt das Entscheidende in der Kirche. Dass nämlich die Kirche als Gründung Jesu, als Gemeinschaft der Glaubenden, als Sakrament des Heiles immer ein Geschenk ist. Ich habe kein Anrecht darauf und kann es weder kaufen noch organisieren. Das Entscheidende "ist für das Auge unsichtbar", wie zu Recht der "kleine Prinz" bei Antoine de Saint-Exupéry sagt. Wie kann das Besondere der Gegenwart Jesu hervortreten? Wie kann ich die Kirche als Geschenk empfinden? Wie kann ich das Wunder der Wandlung erleben, wenn wohlverdaulich alles eingefordert ist? In leistbaren Gehminuten, wohltemperiert. Der Segen kirchlichen Wohlstandes ist die Sorgenfreiheit, der Fluch dabei ist das Verlangen nach einforderbarer Leistung.

Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche als Institutionen

Die Kirche hat als Institution ihre Glaubwürdigkeit verloren. Sie ist dabei nicht allein. Es betrifft auch die Parteien, die Gewerkschaften, die Hochschülerschaft. Obwohl jährlich ein Prozent Mitglieder das Kirchenschiff verlassen, heißt es im kirchlichen Jahresbericht: "Unsere Zahlen bleiben stabil." Allein diese Aussage angesichts des Exodus entblößt ihre verzweifelte Institutionspsychologie.

Wie ein Hund in der Wüste leide ich als Pfarrer natürlich unter dem Vertrauensverlust; das Misstrauen ist weder mit persönlichem Bemühen noch mit den besten Gemeindeaktivitäten zu beseitigen. Ein Großteil der 20- bis 30-Jährigen tritt einfach aus der Kirche aus. Im besten Fall bleiben sie, haben aber mit kirchlichem Dasein nichts mehr zu tun; außer es kommt zufällig ein Kind dazwischen, das getauft werden soll.

So verliert die Gesellschaft mit der Institution Kirche ein Netzwerk sozialer Zusammengehörigkeit. Was muss die Kirche tun? Was kann sie tun? Die Kirche kann nicht mehr von der Selbstverständlichkeit ausgehen, dass sie für die Gesellschaft als notwendig empfunden wird. Darum muss sie neu beweisen, dass es sinnvoll ist, als Mitglied dabei zu sein. Sie muss beweisen, dass sich ihre Existenz positiv auf die Gesellschaft auswirkt. Sie muss beweisen, dass sie das Positive im Menschen verstärken kann und ihn nicht in erster Linie als Sünder definiert.

Kirchengebäude anderweitig nutzen?

Ein drittes Problemfeld ist die Fülle an Gebäuden. Wunderschöne Kirchen, wahre Wunder der Ästhetik und der menschlichen Leistung. Selbst nichtreligiöse Menschen bewundern diese Kultur; auf erstaunliche Art beschreibt der Muslim Navid Kermani ("Ungläubiges Staunen") die Glanzleistungen christlicher Frömmigkeit. Dennoch bleiben sie "nur" Materie, dem Menschen dienlich in seiner Suche nach dem Unendlichen. Von daher auch die Anspielung auf das Wort Jesu im Johannes-Evangelium: "Reißt diesen Tempel nieder", an dem doch 46 Jahre gearbeitet wurde (Joh 2,19).

Nicht einfach zu beantworten ist darum die Frage: Wie lange dienen die Gebäude den Menschen? Ist es noch ethisch vertretbar, so viel Geld in Gebäude zu investieren, die "nur" von einer Handvoll Menschen ein paar Stunden die Woche genutzt werden, während gleichzeitig Flüchtlinge auf der Straße schlafen oder Jugendliche wegen fehlender Spielräume in der Stadt Geschäfte ruinieren? Wäre es nicht überlegenswert, den Gebetsort zum Schlafsaal umzugestalten, den Raum des Gottesdienstes zum Indoor-Spielplatz? Wie schreibt der Prophet Amos: "Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, habe ich kein Gefallen an euren Gaben, und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen. Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht hören, sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach."

Im Pastoralplan und im Budget - wie groß ist da der Anteil für die Gebäudeausgaben, wie groß für die Jugend? Wie viele Stunden in der Woche ist der Kirchenraum belebt? Würde ein radikaler Schritt der Kirchenumwandlung nicht nur einerseits dem Leben sinnvoller dienen, andererseits der Kirche inmitten einer pluralistischen Gesellschaft zu einer neuen Glaubwürdigkeit verhelfen?

Neu beweisen, dass unser christlicher Glaube positiv ist

Beim jährlichen Treffen mit Religionslehrerinnen und -lehrern kam zur Sprache, dass an vielen Schulen Direktorinnen und Direktoren oder Kolleginnen und Kollegen aus dem Lehrkörper der Meinung sind, Glaube und Kirche seien Gift für die Menschen, ganz besonders für die jungen. Darum verteilen sie gleich zu Beginn des Schuljahres die Formulare zum Abmelden vom Religionsunterricht, damit die Kinder mit diesem "Gift" nicht in Berührung kommen. Auch hier gilt, dass wir nichts mehr institutionell einfordern können. Wir müssen neu beweisen, dass sich unser christlicher Glaube positiv für die Kindererziehung, für das Allgemeinwohl, für den einzelnen Menschen auswirkt. Den Beweis dafür trete ich aber gerne an.

Betrachtet man die sich leerenden Kirchengebäude aus einer rein nutzenorientierten Perspektive, erblickt man in ihnen schnell kostspielige Symbole einer Institution, die all ihre Glaubwürdigkeit verloren hat. Doch leben wir in einer Zeit, in der viele Menschen über die Frage "Was bringt’s?" hinaus nach Sinn und Orientierung suchen. Gerade diese innere Leere und Verunsicherung kann einen Auftrag für eine sich erneuernde Kirche bedeuten.

Dazu braucht es eine gute Diagnose, das Hinschauen auf die Wunden, aber auch ein kreatives Nachdenken über Lösungen. Bei all dem vielen und guten, was - entgegen der Meinung vieler Bürger - durch und in der Kirche geschieht, müssen wir solche Realität zur Sprache bringen, nach innen in meine Gemeinschaft der Kirche hinein, und als Bürger nach außen in die Gesellschaft. Das könnte ein weiterer Schritt der Reform sein.