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Erschöpfung und Mobilisierung

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien.
© Daniel Novotny

Über den subjektiven und den objektiven Wahlkampfmodus.


Was man am Tag vor diesem entscheidenden 4. Dezember feststellen kann, ist überraschend: Es gibt eine unglaubliche Diskrepanz zwischen der Wahl-Erschöpfung der Einzelnen und der Bedeutung dieser Wahl. Jeder weiß, diese Wahl ist eine besondere Wahl. Jeder weiß, es handelt sich um einen Richtungsentscheid. Ganz Europa schaut zu. Umso erstaunlicher ist die Ermattung vor diesem Umstand. Überraschend und auch wieder nicht überraschend angesichts eines elfmonatigen Wahlkampfs mit all seinen Höhepunkten und Peripetien.

Eine erschöpfte Gesellschaft und ein anhaltender Wahlkampf - das bedeutet die Gleichzeitigkeit eines subjektiven und eines objektiven Wahlkampfmodus. Die Gleichzeitigkeit und Unterschiedlichkeit einer subjektiven und einer objektiven Mobilisierung. (Wobei sich die Frage stellt: Wie hat Van der Bellen das nur geschafft? Wie kann man emotional, energetisch von President-elected auf Wahlkampfmodus zurückschalten? Eine erstaunliche Leistung - während wir geschlaucht in den Seilen hängen.)

Politische Mobilisierung bedarf der Erregung. Sie braucht emotionale Energien. Eine Art von Aufgeputschheit, von gesteigerter Gefühlsintensität. Erst damit ist man involviert, dabei, engagiert. Aber in Österreich konnte man im letzten Jahr die Erfahrung machen: Dauererregung funktioniert nicht. Dauererregung erzeugt nicht mehr, sondern weniger Involviertheit. Denn Dauererregung erzeugt Erschöpfung. Und zwar nicht wegen der ständigen Wiederholungen - man hat alle Argumente gehört, alle Positionen abgeklopft. Dieses Wiederkäuen erzeugt irgendwann vielleicht Langeweile, die Erschöpfung aber rührt von woanders her. Sie stellt sich ein, wenn permanent mit schweren Zeichen operiert wird. Mit Zeichen also, die Emotionen wecken sollen. Ich erspare es Ihnen, diese hier noch einmal aufzuzählen. Und sie stellt sich ein bei anhalten Untergriffen. Selbst auf den letzten Metern.

Aber eines ist diese Erfahrung: Sie ist eine schlechte Nachricht für Populisten. Denn Populismus braucht die Erregung. Und weil diese sich abnützt, sind Populisten ständig damit beschäftigt, das Level zu steigern, den Erregungsspiegel zu erhöhen. Jetzt aber erleben wir: Das lässt sich nicht auf Dauer stellen. Dauererregung verkehrt sich. Sie erzeugt Erschöpfung. Denn irgendwann braucht das Publikum, brauchen wir alle auch wieder Banalisierung, eine Veralltäglichung des Lebens.

Was uns davon noch trennt, ist der 4. Dezember. Der Wahltag. Ohne jetzt selbst schwere Zeichen zu bemühen für einen leidenschaftlichen Wahlaufruf - aber einmal (hoffentlich einmal!) müssen wir noch. Rufzeichen. Einmal noch die subjektive und die objektive Mobilisierung zur Deckung bringen. Denn es geht längst nicht mehr ums Überzeugen. Keiner wird mehr bis Sonntag bekehrt. Die einzig wirklich relevante Frage ist die der Mobilisierung: Wie viele schaffen es (ein letztes Mal) ihre subjektive De-Mobilisierung zugunsten der objektiven Mobilisierung zurückstellen - und tatsächlich hinzugehen? Anders gesagt: Wie viele schaffen es an diesem Sonntag, die objektive zu ihrer subjektiven Mobilisierung zu machen - und zur Wahl zu gehen?