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Das Attentat und die Scharfmacher

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien.
© Daniel Novotny

Deutschland im Zangengriff.


Es ist zum Heulen. All die Berichte über die Observanz des mutmaßlichen Attentäters von Berlin. All das, was die Geheimdienste über ihn wussten. Im Vorfeld. All die Momente, wo dies eine andere Wendung hätte nehmen können. Die bürokratischen Pannen. Die Unterlassungsfehler. Die Versäumnisse. Kurzum - das Attentat hätte verhindert werden können. Auch wenn sich das hinterher leicht sagen lässt. Auch wenn sich eine Geschichte von hinten, vom Ausgang her, natürlich anders liest.

Die Scharfmacher aber, die waren sofort auf dem Plan - so schnell, dass man denken konnte, sie saßen schon vorher dort, in den Startlöchern. Mit ihren Rufen nach verschärfter Flüchtlingspolitik. Auch wenn diese längst verschärft wurde - gerade in Deutschland - und diese Verschärfung den Anschlag nicht verhindern konnte. Ebenso wenig wie eine Schließung der Grenzen Terroristen abhalten wird. Zumal die meisten ohnehin Europäer sind, die sich hier radikalisiert haben. Aber bei diesen Rufern geht es ja nicht tatsächlich um Effizienz in der Terrorbekämpfung. AfD-Mann Pretzell twitterte noch am Montagabend: "Wann schlägt der deutsche Rechtsstaat zurück?" Zurück? Das ist ein Ruf nach Vergeltung, nicht nach wirksamem Handeln. Denn ein solches wäre nur vorher, nur präventiv möglich. Der Ruf ist ein Fetisch, ein Handlungsersatz, der den Kontrollverlust zudecken soll. Denn jedes dieser Attentate ist zugleich mit den Toten, den Verletzten, dem Horror auch die Erfahrung eines tiefgehenden Kontrollverlusts für die ganze Gesellschaft. Die Scharfmacher-Fetische, die auf der Effizienzebene völlig wirkungslos sind, sollen diese verlorene Kontrolle wiederherstellen. Zumindest als Illusion.

Neben den bekannten AfD- und Seehofer-Äußerungen kommt ein besonderes Beispiel aus Ungarn. Ein Zeitungskommentar von martialischer Blumigkeit. "Seit Jahren", schreibt der Kommentator, "läutet in Europa der Wecker ohne Unterlass. Aufwachen, alter Kontinent, alte Bevölkerung!" Wir verstehen: Attentate sind ein Alarm, Europa aber, der alte Kontinent - nicht ehrwürdig, traditionsreich, sondern erschlafft, überholt - schläft. "Der grüne und reiche Traumstaat" geht es durchaus doppeldeutig weiter - denn ein Traumstaat (EU?, Deutschland?) ist sowohl der, von dem man träumt, weil er toll ist, als auch der, der träumt, also irreal, weltabgewandt ist. Dieser sei aber eigentlich der Staat "der (ideell) Ausgebrannten, der an nichts Glaubenden, der Kinderlosen". Er sei also mitnichten tolerant, offen, vernünftig, sondern vielmehr nihilistisch, hedonistisch, egoistisch. "Ungläubige" also, auf die auch der IS zielt. Mit Lkw.

"Da draußen", fährt der Kommentar fort, "ist eine ganz andere Welt" - eine echte Welt, die noch an etwas glaubt. Die noch Kinder bekommt. Und diese Welt "sie wird hierherkommen" - so kann man die Attentate natürlich auch beschreiben. "Und niemand, weder Deutschland, noch Europa habe eine Vision, wie sie ihr Traumland verteidigen können. Sie werden den Weckruf nicht vernehmen." Letztlich, sagt uns der blumige Rechte, seien wir selber schuld, wir dekadenten Traumtänzer, wenn vitalere Kräfte uns und unsere Traumwelt mit dem Lkw niedermähen.