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Herr Tosun und die Integrationspolitik

Von Gregor Haller

Gastkommentare
Die erfolgreiche Teilnahme an Deutschkursen (Featurebild) ist für viele auch mit existenziellen Fragen verbunden.
© Stanislav Jenis

Warum ein AMS-Deutschtrainer Beschämung über das System empfindet.


Prüfungswoche am Institut für die Niveaustufe A1. Es ist Montagnachmittag 13.30 Uhr, die schriftliche Prüfung beginnt. Nach sechs Stunden Unterricht und 10 Minuten Mittagspause bin ich müde und unter Strom gleichzeitig. Ich teile die Unterlagen aus, kontrolliere die Anwesenheit und die Identität der TeilnehmerInnen mittels Lichtbildausweis, da es immer wieder vorkommen soll, dass andere Personen, vornehmlich mit besserem Sprachkenntnisstand, die Prüfungen schreiben möchten, als die eigentlichen für die Prüfung angemeldeten Personen.

Denn durch die Koppelung von Sprachkenntnisstand mit diversen Aufenthaltstiteln wie dies in der Integrationsvereinbarung der Regierung festgeschrieben ist, beziehungsweise mit der Koppelung des Sprachkenntnisstands an den Erhalt von sozialen Leistungen, wie das bald in Ober- und Niederösterreich der Fall sein wird, entsteht für viele Leute ein enorm hoher Druck, die Prüfungen zu bestehen. Vielfach und im wahrsten Sinne des Wortes sind damit existenzielle Fragen verbunden.

Ich erkläre Punkt für Punkt den Prüfungsablauf sowie die Aufgaben und möchte das Startzeichen zum Prüfungsbeginn geben, als ein älterer, kleiner, türkischer Mann mit Schnauzbart eintritt, sich für die Verspätung plausibel entschuldigt und sich auf den Tisch rechts hinten im Eck setzt. Langsam und umständlich entledigt er sich seines Mantels und seines Schals und räumt seine Unterlagen aus einem Plastiksackerl auf den Tisch.

Was mache ich jetzt? Bin ich streng oder bin ich kulant? Wegen fünf Minuten Verspätung . . . Ich bin auf jeden Fall genervt! Denn nun muss ich die anderen PrüfungsteilnehmerInnen, die wie Rennpferde vor dem Start mit den Hufen in den Boxen scharren, in Zaum und davon abhalten, mit den Aufgaben zu beginnen und gleichzeitig die Anwesenheit und die Identität des später eingetroffenen Teilnehmers feststellen, ihn den Prüfungsbogen ausfüllen lassen, dabei Verständnisfragen klären und anschließend noch einmal den ganzen Prüfungsablauf und die einzelnen Aufgaben erklären. Ich gerate zudem in einen Konflikt mit der Prüfungsordnung. Denn eigentlich, strenggenommen . . . "Wieso kannst du nicht einfach pünktlich zu der Prüfung kommen?", fragt meine innere Stimme in harschem Ton. Ich entscheide mich trotzdem für den Kulanzweg.

Mittwochnachmittag, seit 13.30 Uhr halte ich gemeinsam mit meinem Kollegen die mündlichen A1-Prüfungen ab. Etwa die Hälfte der KandidatInnen war sehr gut, die andere Hälfte war etwas ermüdend. Zuallerletzt und als 15. Kandidat kommt der ältere, kleine, türkische Mann mit Schnauzbart. Herr Tosun, so lautet sein Name auf meiner Liste (Name von der Redaktion geändert).

Während des ganzen Prüfungsnachmittages hatte ich immer wieder mal Zeit, mir kurz ein Glas Wasser aus der Küche zu holen oder auf die Toilette zu gehen. Unter all den nervösen, angespannten und erwartungsvollen Gesichtern am Gang ist mir dabei auch jenes von Herrn Tosun aufgefallen, das ruhig und gelassen wirkte, als er da so im Lederfauteuil saß und wartete, bis er an der Reihe war. Er grüßte freundlich und machte eigentlich einen sympathischen Eindruck.

Deutschkenntnisse aus drei Jahrzehnten auf der Baustelle

16.20 Uhr. Herr Tosun ist schließlich an der Reihe und tritt ein. Er zieht sich in aller Ruhe und etwas umständlich Mantel und Schal aus, reicht uns die Hand, setzt sich. Mein Kollege erklärt die Prüfungsaufgaben. Aufgabe eins: "Wir möchten Sie gerne näher kennenlernen, bitte sprechen Sie ein paar Sätze zu den vier Themen, die Sie ausgewählt haben."

Herr Tosun spricht. Er spricht mit einer Freundlichkeit, Distinguiertheit und einer Ruhe, die an einen englischen Gentleman oder an einen Universitätsprofessor denken lassen. Herr Tosun spricht folgende Worte: "Ich heiße B. Tosun, ich bin im 87er Jahr nach Österreich gekommen. Ich habe drei Jahre bei der Firma Semperit gearbeitet, dann wurde ich gekündigt. Ich war drei Monate arbeitslos, dann habe ich 14 Jahre bei der Firma XY in der Verpackung gearbeitet. Kurz nachdem ich aus dem Urlaub zurückkam, wurde ich gekündigt. Ich war wieder eine Zeit lang arbeitslos. Dann habe ich über eine Leiharbeitsfirma wieder Arbeit gefunden und habe eine Zeit lang auf der Baustelle gearbeitet. Als ich mir das Bein gebrochen habe, wurde ich gekündigt. Ich war wieder arbeitslos. Zuletzt habe ich in einer Reinigungsfirma gearbeitet und habe unter anderem Züge sauber gemacht. Jetzt bin ich wieder arbeitslos." Er sagt das ohne Bitterkeit, er sagt das als eine Aneinanderreihung von Ereignissen in seiner beruflichen Laufbahn.

Der Kandidat Herr Tosun hat ausführlich zum ersten Thema gesprochen. "Danke sehr, bitte sprechen Sie zum nächsten Thema", sagt mein Kollege. "Sprachen, ich spreche zum Thema Sprachen", sagt Herr Tosun, und er fährt fort, in seiner freundlichen, unaufgeregten und distinguierten Art zu erzählen: "Ich spreche Türkisch und ein bisschen Deutsch. Ich habe Deutsch in der Arbeit und auf der Baustelle von meinen Arbeitskollegen gelernt. Ich besuche jetzt zum ersten Mal einen Deutschkurs, da ich jetzt wieder arbeitslos bin. Ich lerne viel. Ich habe gelernt, dass es in der deutschen Sprache auch das großgeschriebene ‚Sie‘ gibt, dass als Höflichkeitsform gilt und nicht nur die zweite Person Singular: ‚Du‘. Und ich habe auch etwas Satzbau gelernt." Er sagt das ohne Bitterkeit.

Von der Arbeit gezeichnet, aber Würde ausstrahlend

Herr Tosun erzählt noch von seinen Freizeitaktivitäten und von seinem Lieblingsessen. Mein Kollege erklärt die zweite Aufgabe: "Sie haben ein Bild ausgewählt. Was sehen Sie auf dem Bild, wie viele Personen, wo sind die Personen, was machen die Personen?" Herr Tosun hat sich ein Bild ausgesucht, das einen Mann und eine Frau in einer Autowerkstatt zeigt. Die dritte Aufgabe besteht darin, einen Dialog zu dem Bild durchzuspielen. Herr Tosun, der seit bald 30 Jahren in Österreich lebt, noch nie einen Sprachkurs besucht hat und Deutsch auf der Baustelle über das Hören gelernt hat, absolviert alle drei Aufgaben sehr gut.

Die Prüfung ist zu Ende, Herr Tosun zieht wieder Mantel und Schal an und verabschiedet sich, die Hand reichend, freundlich und ruhig. Mein Kollege und ich stehen auf, geben ihm die Hand und verneigen uns. Ich empfinde Hochachtung für diesen weit über 50-jährigen, körperlich von seiner Arbeit am Fließband und an der Baustelle gezeichneten Mann, der so viel Würde ausstrahlt.

30 Jahre lang die Drecksarbeit für die Österreicher erledigt

Ich empfinde Beschämung über dieses System. Ich schäme mich dafür, dass dieser Mann, der beinahe 30 Jahre lang die Drecksarbeit in Österreich erledigt hat, die seinen Körper in Mitleidenschaft gezogen hat, der auf der sozialen Leiter auf einer der untersten Sprossen angesiedelt ist, der mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als Türke und als Muslim in seinem Alltag zahlreichen Anfeindungen, Beschimpfungen und blöden Kommentaren ausgeliefert ist, nun vor zwei deutlich jüngeren, privilegierten, "autochthonen Österreichern" mit einer bildungsbürgerlichen Karriere nach 30 Jahren Aufenthalt eine A1 Prüfung abzulegen hat.

Angesichts dieses bescheidenen und würdevollen Mannes empfinde ich auch Beschämung, wenn ich die Zeitungen aufschlage und den Diskurs verfolge, der in diesem Land herrscht, angestachelt von machtgeilen, populistischen und zynischen PolitikerInnen, die sich wegen einiger Wählerstimmen gegenseitig darin übertrumpfen, wer die noch grauslichere "Integrations"-Politik fährt. Zum Beispiel indem sie Sozialleistungen wie die Mindestsicherung an den Spracherwerb knüpfen wollen und wie dieser grausliche Diskurs noch von ebenso populistischen und zynischen (Gratis-)Medien, die obendrein von öffentlicher Hand für ihr Spiel mit der Angst und den Neidreflexen gefördert werden, ins Bodenlose des Zynismus und der Niedertracht befeuert wird.

Denn für die Drecksarbeit in prekären und schlecht bezahlten Jobs waren diese Leute jahrelang, jahrzehntelang gut genug und die Politik hat sich ebenso lang einen feuchten Kehricht um diese Leute gekümmert. Und jetzt wird ihnen nach Jahrzehnten in einem panikartig anmutenden und populistischen Aktionismus zugerufen: "Du bist nicht integriert! Du kannst die Sprache nicht." "Integration" und was auch immer man darunter verstehen will, wird in diesem Diskurs zur reinen Holschuld. Diese Ignoranz ist zum Verzweifeln.

"Geben wir ihm alle Punkte?", frage ich meinen Kollegen, nachdem Herr Tosun das Zimmer verlassen hat. "Ja, höchstens einen Punkt Abzug bei der formalen Richtigkeit, aber das wäre schon sehr streng", antwortet der Kollege. Wir einigen uns darauf, Herrn Tosun alle 25 Punkte beim Sprechen zu geben. Als wir den Prüfungsbogen ausfüllen und die Punkte in den Bereichen Lese- und Hörverstehen, Sprechen und Schreiben zusammenzählen, erreicht Herr Tosun aufgrund seiner mäßigen Leistung im schriftlichen Prüfungsteil 60 von 100 Punkten. Mein Kollege und ich sehen uns einen Moment länger als üblich in die Augen, ein vielsagender Blick ohne Worte, und wir wissen beide - instinktiv -, hier läuft etwas ziemlich falsch. Hätten wir ihm einen Punkt abgezogen, Herr Tosun hätte die Prüfung nicht bestanden.

Gregor Haller studierte Politikwissenschaft und ist seit mehreren Jahren Deutschtrainer in AMS-Kursmaßnahmen diverser Institute in Wien und Niederösterreich