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Unterwirft sich Frankreich dem Lepenismus?

Von Adrian Lobe

Gastkommentare
Adrian Lobe hat Politik- und Rechtswissenschaft in Tübingen, Paris und Heidelberg studiert und ist freier Journalist.

Der Islam ist nur die Chiffre für alle autoritären Strömungen der Gegenwart. Zur Aktualität von Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung".


Frankreich im Jahr 2022: Im Élysée-Palast regiert Präsident Mohammed Ben Abbes, ein moderater Muslimbruder, auf den sich die etablierten Parteien verständigt haben, um die rechtsextreme Marine Le Pen zu verhindern. Frauen tragen Schleier. Über der Sorbonne weht der Halbmond. Die Polygamie wird eingeführt. So beschreibt Michel Houellebecq im Roman "Unterwerfung" die düstere Zukunft Frankreichs.

Das Werk, das zeitgleich mit den Anschlägen auf "Charlie Hebdo" erschien, wurde als Prophetie eines islamistischen Gottesstaats gelesen. Diese Rezeption war ungünstig. Wer Houellebecqs Werke kennt, weiß, dass der Autor nicht islamophob ist, sondern sich genüsslich an den Phänomenen der Moderne abarbeitet: Sextourismus, Strings, Suff, Kundenkarten, die Atomisierung der Gesellschaft, die in Insolation und Einsamkeit mündet. "Unterwerfung" ist eher als ironische Parabel aufs verdorbene politische Establishment der Fünften Republik zu sehen.

Und doch fragt man sich, was der "Prophet", zu dem Houellebecq stilisiert wurde, zur französischen Präsidentschaftswahl zu sagen hat. Der Wahlausgang ist so ungewiss wie nie. Der Konservative François Fillon ist durch den Skandal um den Job seiner Frau beschädigt. Dem Sozialisten Benoît Hamon, der mit einem utopistischen Programm ins Rennen geht und keine Hausmacht beim PS hat, gehen die Fans aus. Am rechten Rand trommelt Marine Le Pen, die einen "Frexit" samt Rückkehr zum Franc verspricht. Und im politischen Zentrum, das ein schwarzes Loch war, leuchtet plötzlich der Stern Emmanuel Macrons, dessen Bewegung "En Marche!" weder links noch rechts sein will, bis tief ins konservative Milieu hinein.

Gavin Bowd, ein schottischer Universitätsgelehrter und Freund Houellebecqs, hat behauptet, der Romancier habe in seinem Pariser Appartement zwischen einer Flasche Wein und Absinth darüber nachgedacht, zur Wahl Le Pens aufzurufen. Houellebecq als Hofschreiber der neorechten Identitären? Es war wohl nur eine Provokation. Eine Stelle im Roman ist gespenstisch aktuell. Da legt der Autor einem Kollegen der Hauptfigur, dem rechtsgerichteten, der identitären Bewegung nahestehenden Lempereur folgende Worte in den Mund: "Mit der Gründung der ‚Ureinwohner Europas‘ ist alles anders geworden. Die haben sich anfangs von den ‚Ureinwohnern der Republik‘ inspirieren lassen, das heißt, sie haben genau das Gegenteil von denen gemacht, und es ist ihnen gelungen, eine klare Botschaft zu vermitteln, die alle vereint: ‚Wir sind Europas Urbevölkerung, die Ersten auf diesem Grund und Boden, und wir lehnen die islamische Kolonisierung ab; ebenso lehnen wir amerikanische Firmen ab und den Aufkauf unseres ererbten Landes durch die neuen Kapitalisten aus Indien, China und anderswo.‘"

Der Satz könnte auch von Le Pen stammen, die in Wladimir Putin den letzten Bewahrer des Christentums sieht und eine katholisch-orthodoxe Allianz schmieden will. Der Islam ist bei Houellebecq nur die Chiffre für allerlei autoritäre Strömungen, vom Lepenismus bis zum Trumpismus, deren antipluralistischer und antiliberaler Impetus dem der Muslimbrüder (etwa die Ablehnung von Homo-Ehe oder Gender-Theorie) gar nicht unähnlich ist. "Unterwerfung" sollte uns allen eine Mahnung sein - vor allem den französischen Wählern.