Zum Hauptinhalt springen

Eine rote Schwalbe

Von Jérôme Segal

Gastkommentare

Gastkommentar: Jean-Luc Mélenchon ist die große Überraschung des französischen Wahlkampfs.


Was für ein unglaublicher Wahlkampf! Zuerst hat zum ersten Mal ein amtierender Präsident sein Amt kampflos aufgegeben: Mit nur 4 Prozent Zuspruch in den Umfragen, war es für François Hollande schlichtweg unmöglich, ein zweites Mal zu kandidieren. Der junge Emmanuel Macron (Jahrgang 1977), der bis vorigen Sommer Wirtschaftsminister war, hat seine eigene Bewegung "En Marche!" gegründet. Das bedeutet so viel wie "Vorwärts" auf Französisch, jedoch könnte sich sein Programm kaum mehr vom gleichnamigen 1876 gegründeten Zentralorgan der deutschen Sozialdemokraten unterscheiden.

"En Marche" steht vor allem für die Initialen Macrons - "EM". Er gilt als Jungspund, Streber, der einerseits für die massiven Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen durch die umstrittene Reform des Arbeitsrechts verantwortlich ist ("schlimmer als unter Nicolas Sarkozy", meinte zum Beispiel ein Gewerkschafter) und anderseits für die Liberalisierung im Bereich Verkehr: Durch ganz Frankreich kreisen die neuen "Macron-Busse", während eine Eisenbahnlinie nach der anderen schließen muss.

Über Marine Le Pen braucht man nicht viel sagen. Die Präsidentschaftskandidatin und Vorsitzende des extrem rechten Front National hat alles versucht, um das Image ihrer Partei aufzupolieren. Doch es sind trotz aller Bemühungen Entgleisungen vorgekommen. Am 9. April hat sie etwa die Verantwortung Frankreichs bei der Durchführung der Pariser Großrazzien von Juli 1942 negiert. Dann versuchte sie am 17. April eine Parallele zwischen der muslimischen Bevölkerung Frankreichs und den Protestanten des 17. Jahrhunderts zu zeichnen. Ihr zufolge hätten nämlich beide die Gemeinsamkeit, die Gründung eines eigenen Staates innerhalb des Staates anzustreben. Damit sorgte Le Pen für einen Aufschrei und beging mit diesem Vergleich einen politischen Fehler.

Die Sozialisten fielen ihrem Kandidaten in den Rücken

Im rechten Lager befindet sich François Fillon (seine Partei "Les Républicains" ist die Bruderpartei der ÖVP und der ungarischen Fidesz von Victor Orbán), der auch nicht viele Zeilen wert ist. Es wurden gegen ihn Ermittlungsverfahren wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und der Scheinbeschäftigung seiner Frau und seiner beiden Kinder eingeleitet. Wenig verwunderlich ist deshalb, dass es bei seinen öffentlichen Auftritten immer zu "Gib das Geld zurück!"-Zwischenrufen aus dem Publikum gab. Oder dass in argentinischer und isländischer Manier auf Töpfe geschlagen wurde, um ihn zu übertönen. Nun versucht er weiter nach rechts auf Stimmenfang zu gehen. Er umgibt sich mit radikalisierten Katholiken, doch diese werden ihm wohl kaum zum Wahlsieg im laizistischen Frankreich verhelfen können.

Seit zwei Wochen gibt es allerdings eine große Überraschung: Jean-Luc Mélenchon. Nach einer langjährigen Mitgliedschaft in der Sozialistischen Partei ist er durch seinen Austritt 2008 eine bedeutende Proteststimme geworden. "links vom linken Spektrum", wie die Franzosen sagen. Er hat den Wahlkampf vor mehr als einem Jahr angefangen und dabei im Februar 2016 eine neue Bewegung begründet: "La France insoumise", also "das unbeugsame Frankreich". Anfang März hätten ihm laut Umfragen nur 9 Prozent der Wähler ihre Stimme gegeben. Damit hinkte er seinem Wahlergebnis aus dem Jahr 2012 um zwei Prozentpunkte hinterher. Die linke Wählerschaft konzentrierte sich damals auf Benoît Hamon, der die Vorausscheidung der Sozialisten gewonnen hatte. Dem damaligen Favoriten Manuel Valls wurde wegen seiner Nähe zu Präsident Hollande eine Absage erteilt. Das nutzte Hamon, der im Sommer 2014 von der Regierung Hollande/Valls entlassen wurde, um sich als neuer, frischer Wind der Sozialisten zu profilieren.

Was danach geschah, war eine große Überraschung: Obwohl Valls sich schriftlich verpflichtet hatte, den Sieger der Vorausscheidung zu unterstützen, entschied er sich später für Macron. Für Hamon war das ein Dolchstoß der Sonderklasse. Es gab auch viele Sozialisten, wie etwa den Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë oder Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian, die sich hinter Macron stellten. Benoît Hamon hatte so viele Messer im Rücken ("couteaux dans le dos" nennen das die Franzosen), dass er jetzt mit 7,5 Prozent in den Umfragen wie ein kleiner Igel ausschaut. Dadurch, dass Macron viele angeblich linke Stimmen lukrieren dürfte, werden Leute, die sich wirklich als Linke sehen, nun Mélenchon wählen.

Dia Lage in Frankreich erinnert an Österreich vor einem Jahr

Die aktuelle Lage erinnert eigentlich an die österreichische Bundespräsidentschaftswahl vor einem Jahr. Die ehemaligen regierenden Parteien, seien es "Les Républicains", die bis 2012 unter Sarkozy an der Macht waren, oder die Sozialisten. Heute sind beide mehr denn je davon bedroht, an Bedeutung zu verlieren. Die Sozialisten wegen einer schlechten Politik, die Konservativen wegen eines schlechten Kandidaten.

Neben den Zuneigungsbekundungen für den Opportunisten Macron oder für die Rechtsextremistin Le Pen gibt es seit zwei Wochen ein Novum in der französischen Politik: die Begeisterung für Mélenchons "France insoumise". Zum ersten Mal haben NGOs klare Wahlempfehlungen abgegeben. Sowohl Greenpeace, Amnesty International und Oxfam als auch verschiedene Tierschützer - alle haben sich ausdrücklich für Mélenchon ausgesprochen. Mit seiner "ökologischen Planung" ist er der Einzige, der sich ausdrücklich gegen Atomkraft stellt - ein Tabu in einem Land, wo 58 AKW knappe 75 Prozent des Strombedarfs erzeugen.

Interessanterweise bekam Mélenchon vor kurzem sogar Rückenwind aus den USA, obwohl er nicht gerade für seine Amerikanophilie bekannt ist (wenn man an Nordamerika denkt). Der Regisseur Oliver Stone ("Snowden"), die Journalistin Naomi Klein ("Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima") und der berühmter Philosoph und Aktivist Noam Chomsky haben, unter vielen anderen, die Franzosen aufgefordert, nicht zwischen "corporate establishment liberalism" (Macron) und rassistischem Rechtspopulismus (Le Pen) zu wählen, sondern Mélenchon zu unterstützen. Die Franzosen sollten nicht den gleichen Fehler wie die USA mit Donald Trump machen, so der Tenor.

Macron hätte als Präsident keine Partei hinter sich

Die Stimmung droht jedoch zu kippen. In der letzten Fernsehdiskussion vor der ersten Wahlrunde am Donnerstagabend haben sowohl Le Pen als auch Fillon den aktuellen Anschlag in Paris für ihre Zwecke instrumentalisiert. Sollte es also am Ende doch zu einer Stichwahl zwischen Le Pen und Macron kommen - und damit dann wohl zu Macrons Wahlsieg -, geht die Spannung über den ersten Wahltermin hinaus. Am 11. und 18. Juni finden nämlich die Parlamentswahlen statt. Diese sind von großer Bedeutung, denn ohne eine Mehrheit im Parlament kann der französische Präsident nicht regieren. Macron hat keine Partei hinter sich, sondern ein Sammelsurium an Männern (kaum Frauen): Daniel Cohn-Bendit von den deutschen Grünen, Robert Hue (der selbst 1995 und 2002 für die Kommunistische Partei in Frankreich kandidierte) oder im rechten Eck den ehemaligen Minister Renaud Dutreil. Damit wäre es für ihn unmöglich, eine stabile Regierung zu schaffen.

Eines ist gewiss: Falls der jüngste Pariser Anschlag keinen allzu großen Einfluss auf den Wahlkampf hat, wird Mélenchons Ergebnis bestimmt bemerkenswert sein. Auch wenn wir alle wissen, dass eine Schwalbe - aucgh eine rote - noch keinen Sommer macht.