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Selbstschutz und Solidarität

Von Günther Kräuter

Gastkommentare

Masern sind keine harmlose Kinderkrankheit, darum fordert die Volksanwaltschaft einen verpflichtenden Impfschutz dagegen.


Die Volksanwaltschaft fordert einen verpflichtenden Impfschutz gegen Masern an Kindergärten, Krippen und Schulen sowie für Gesundheitspersonal - und zwar aus mehreren guten Gründen: Masern sind keine harmlose Kinderkrankheit, sie sind hochansteckend und können schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. In 20 von 100 Masernfällen treten Komplikationen wie Bronchitis, Mittelohr- und Lungenentzündung auf. Bei etwa einem von 1000 Erkrankten kommt es zu einer lebensbedrohlichen Gehirnentzündung.

Ein Grund, der mir besonders am Herzen liegt: Erst ab einer Durchimpfungsrate von 95 Prozent sind auch Menschen geschützt, die (noch) nicht gegen Masern geimpft werden können, wie Säuglinge, Krebspatienten oder Menschen mit geschwächtem Immunsystem. Derzeit sind diese besonders gefährdet, denn Österreich erreicht die Durchimpfungsrate nicht. Als Folge steigt die Zahl der Erkrankungen, diese hat sich heuer bereits mehr als verdoppelt.

Erst kürzlich wandten sich deshalb besorgte Eltern an die Volksanwaltschaft. Ihr Kind hat aufgrund einer Transplantation den Immunschutz verloren und kann derzeit nicht geimpft werden. Die Eltern wissen nicht, ob die Mitschüler gegen Masern geimpft sind, und haben auch kaum Möglichkeiten, dies zu erfahren. Eine Impfpflicht könnte ihr Kind schützen. Denn nur die Immunität der Mehrheit schützt die Minderheit, die nicht geimpft werden kann. Impfen ist daher auch eine solidarische Verpflichtung.

Die Durchimpfungsrate sinkt

Schließlich wären ohne Impfungen lebensgefährliche Krankheiten wie etwa die Pocken bis heute nicht ausgerottet.

Trotz dieser zahlreichen Gründe haben die Aufklärungskampagnen und Appelle der Gesundheitspolitik bisher nicht zum Ziel geführt. Die Durchimpfungsrate sinkt. Etwa sechs Prozent der Zwei- bis Fünfjährigen in Österreich sind derzeit gar nicht gegen Masern geimpft, das sind rund 20.000 Kinder. Rund zehn Prozent der geimpften Kinder sind kein zweites Mal geimpft. Aus der Sicht von Experten ist "Gefahr in Verzug".

Doch darf der Staat Menschen dazu verpflichten, sich durch eine Impfung gegen Masern zu schützen? Ist ein solcher Eingriff in das Recht auf Privatsphäre gerechtfertigt? Die Antwort ist klar: Der Staat darf nicht nur handeln; er muss sogar. Eine gewisse Verpflichtung zur Impfung ist nicht nur ethisch vertretbar, sondern im Lichte der staatlichen Gewährleistungspflicht zum Schutz der Gesundheit sogar geboten, wie auch der renommierte Medizinrechtsexperte Christian Kopetzki argumentiert.

Impfpflicht in Italien

Auch die beim Bundeskanzleramt eingerichtete Bioethikkommission empfiehlt, anlässlich der Aufnahme in öffentliche Schulen, Bildungsrichtungen und Kinderbetreuungseinrichtungen den Nachweis eines ausreichenden Impfschutzes einzufordern. Erst kürzlich führte Italien angesichts einer Masern-Epidemie eine Impfpflicht ein.

Die Volksanwaltschaft hat in diesem Zusammenhang das Recht auf Selbstbestimmung gegenüber dem Recht auf Schutz der Gesundheit sehr sorgfältig abgewogen. Die Einführung einer Impfpflicht steht in einem Spannungsverhältnis zum Recht auf Privatleben gemäß Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Bei entsprechender Gefährdungsprognose kann aber ein solcher Eingriff durch den Schutz der Gesundheit gerechtfertigt sein. Ähnlich sieht das übrigens auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung zum Fall Solomakhin vom 24. September 2012. Im zugrunde liegenden Sachverhalt ging es um eine verpflichtende Impfung gegen Diphtherie in der Ukraine. Der EGMR erachtete im konkreten Fall den Eingriff in die körperliche Integrität des Beschwerdeführers durch das Interesse des öffentlichen Gesundheitsschutzes als gerechtfertigt.

Die Diskussion um eine Impfpflicht führt nicht zuletzt auch zu der Frage: Wollen wir eine Gesundheitspolitik, die bloß Kampagnen macht und Appelle an die Bürgerinnen und Bürger richtet? Oder sollen Gesundheitspolitikerinnen und -politiker auch Entscheidungen treffen und ihre Verantwortung wahrnehmen, wenn es darum geht, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen?

Aus Art. 10 Abs. 1 Z 12 B-VG ergibt sich die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers, generelle Maßnahmen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten zu treffen. Wenn Appelle nicht zum Ziel führen, sind verpflichtende Impfungen zum Schutz der Bevölkerung unumgänglich, die Politik ist am Zug. In der Steiermark muss nun Gesundheitspersonal, das neu eingestellt wird, Impfungen nachweisen. Das ist ein erster richtiger Schritt, aber es ist erst der Anfang.

Und wie könnte eine Impfpflicht in der Praxis konkret umgesetzt werden? Italien wählt angesichts von 2395 Masernfällen, die bis Mitte Mai dort registriert wurden, eine brachiale Vorgehensweise: Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen, drohen künftig hohe Bußgelder und im Extremfall sogar der Entzug der Obsorge. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass Gegner zu Protesten aufrufen.

In Österreich sind solch drastische Maßnahmen freilich weder angebracht noch notwendig. Sinnvoll wäre vielmehr eine Steuerung über staatliche Zuwendungen. Bei den Pflichtuntersuchungen im Rahmen des Mutter-Kind-Passes hat sich dieses System längst bewährt.

Gastkommentar

Günther

Kräuter

ist seit 2013 als Volksanwalt unter anderem für Soziales, Pflege, Gesundheit, Jugend und Familie zuständig und derzeit Vorsitzender der Volksanwaltschaft. Zudem agiert er als Generalsekretär des International Ombudsman Institute.