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Plädoyer gegen postmoderne Toleranz

Von Zoltan Peter

Gastkommentare

Nicht die Toleranz an sich, sondern ihre zu hohen oder zu niedrigen Ausprägungen können tatsächlich zum Problem werden.


Die Zeitschrift "Biber" hat vor etwa einem Jahr unter dem Titel "Die Österreicher sind zu nett" ein Interview mit der vor fünf Jahren aus Afghanistan nach Wien geflüchteten Journalistin Tanya Kayhan veröffentlicht. Sie trat im Gespräch dafür ein, dass Wertekurse für afghanischen Flüchtlinge nach strengeren Regeln und früher einsetzen sollten, weil diese eine Aufklärung über die Werte westlicher Gesellschaften dringend notwendig hätten.

Am 12. April kritisierte Roland Fürst im "Standard" unter dem Titel "Toleranz ist Ausfluss eines Schuldkomplexes" die zu liberale Zugangsweise vieler Intellektueller und Linker zur Flüchtlingsfrage.

Beide Akteure (die unterschiedlicher nicht sein könnten) verlangen mehr Strenge und Konsequenz in der Flüchtlingsfrage. Sie treten damit, teils explizit und teils implizit, für das Überdenken der multikulturalistischen zugunsten einer strengeren, begrenzten Toleranz ein. Und das ist insbesondere im Fall der vor kurzem eingewanderten Journalistin Kayhan interessant, weil ihr Verlangen nach mehr Strenge einer Einstellung entspricht, die üblicherweise der Mehrheitsgesellschaft, speziell den Vertretern des "Leitkulturansatzes" zugerechnet wird.

Sie empfindet "die Österreicher" als "zu nett". Sie sind jedoch nicht nur nett, sondern auch kritisch. Das Problem dabei ist, dass dieses Kritisch-Sein in der überwiegenden Zahl der Fälle auf das "Eigene" und seltener auf das "Fremde" abzielt. Das heißt, dieses Kritische zielt nicht auf die gesamte, kulturell und ethnisch vielfältige Gesellschaft ab, in der wir in Österreich leben, sondern überwiegend auf die Bevölkerung deutscher Muttersprache. "Die Österreicher" und "die Deutschen" sind scheinbar unsachlich in dieser Frage. Und das war bisher (im 20. Jahrhundert) eine (historisch bedingte) notwendige und beachtenswerte selbstkritische Haltung. (Bei den fremdenfeindlichen Österreichern verhält es sich natürlich umgekehrt, sie kritisieren nur die Fremden. Aber sie und die Fremden stehen diesmal nicht zur Debatte.) Wenn schon, dann nicht die Toleranz an sich, sondern ihre zu hohen und zu niedrigen Ausprägungen können tatsächlich zum Problem werden.

Humanistische "Nettigkeit" vs. begrenzte Respekttoleranz

Die aktuellen Ergebnisse unseres laufenden Wissenschaftsprojekts zum Thema Toleranz unterstützen auf alle Fälle die Vermutung, dass es viele multikulturalistisch eingestellte, weltoffene Österreicherinnen und Österreicher gibt. Im Detail sieht es aber ein bisschen anderes aus. Eine erhebliche Mehrheit der unlängst befragten 350 Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 15 und 20 Jahren (aus unterschiedlichen Ländern) steht für eine begrenzte, reflektierte Respekttoleranz und zweithäufigst für den multikulturalistischen Toleranztypus.

Die Korrelationen sagen uns Folgendes: Der Hang zur multikulturalistischen oder postmodernen, in den öffentlichen Debatten oft als "falsch" benannten Toleranz besteht eher bei Schülerinnen und Schülern, deren Eltern besser ausgebildet sind, die sich in Österreich zu Hause fühlen, älter und kunstinteressiert sind.

Auf den ersten Blick erscheinen diese Ergebnisse positiv und erfreulich, und grundsätzlich sind sie das auch. Zugleich fragt man sich, ob die Einstellungen dieser Bildungsschicht sich auf Dauer bewähren, ob sie nachhaltig sind. Denn diese Jugendlichen sind oft derart humanistisch und "nett", dass sie kaum einer Lebenspraxis kritisch begegnen können oder wollen. Es gibt für sie (bis auf einige extrem negative Vorurteile oder absolute No-Gos wie zum Beispiel Rassismus, Antisemitismus und Fundamentalismus) kaum eine Lebensform, die ihnen nicht als positiver Beitrag zur gesellschaftlichen Vielfalt und Entwicklung vorkommen würde.

Gewaltfreie Konfliktregelung und Political Correctness

Toleranz ist ein Mittel zur gewaltfreien Konfliktregelung. Ihre multikulturalistische, äußerst konfliktscheue Version ist ein Nebeneffekt der postmodernen Theorie sowie der Political Correctness. Es lässt sich festhalten: Wenn es ein allgemeines gesellschaftliches Toleranzproblem gibt, so liegt das in einer zu niedrigen Toleranz auf der einen und in einer zu hohen auf der anderen Seite. Das Problem liegt genauer gesagt darin, dass der Typus begrenzter Respekttoleranz, die als Alternative irgendwo zwischen erlaubender und multikulturalitischer Toleranz liegt, in den bis jetzt untersuchten Schulen zwar am stärksten vertreten, aber gesamtgesellschaftlich betrachtet höchstwahrscheinlich deutlich geringer vorhanden ist.

Die Variable "Zugehörigkeitsgefühl zu Österreich" ist in unserer bisherigen Studie der einzige Faktor, der eine solche kritische Respekttoleranz signifikant erklärt; ein komplexer Umstand, der vieles bedeuten kann. Es lässt sich jedoch vermuten, dass bei diesem Toleranztypus beispielsweise ethnische Zugehörigkeit oder die oft überstrapazierte Zuordnung zu Gruppen mit und ohne Migrationshintergrund, wenn überhaupt, dann eine eher geringe Rolle spielen dürfte.

Etwas mehr Sachlichkeit, etwas weniger Werterelativismus

Die zu niedrigen Toleranzwerte auf der einen Seite (Terroristen, Rassisten, Fundamentalisten, Rechtsextreme) und die zu hohen auf der anderen Seite (Kulturrelativisten, Multikulturalisten etc.) markieren also den aktuellen Problembereich. Die Überwindung dieser Extreme bietet wohl eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Herausforderung. Anzustreben wäre jedenfalls, eine moderne, den geschilderten Extremen und anderen aktuellen Herausforderungen angepasste Toleranzpraxis entstehen zu lassen; eine Konfliktkultur, in der die Kontrahenten sich einig sind, dass für die Akzeptanz oder Ablehnung einer Überzeugung oder Praxis nicht etwa die Zugehörigkeit zur Mehrheit oder Minderheit zählt, sondern wechselseitig stichhaltige Argumente für oder gegen eine bestimmte Haltung. Dazu schrieb Rainer Forst im Jahr 2013 in der Zeitschrift "Die Zeit" (Nummer 25) unter dem Titel "Toleranz ist nicht beliebig": Im Sinne dieser "Respekt-Konzeption muss ich ferner anerkennen, dass ich anderen, die mit mir unter einem gemeinsamen Normensystem leben, Gründe für solche Normen schulde, die zwischen uns moralisch-politisch teilbar sind und eben nicht aus dem Fundus von Überzeugungen stammen, die ja gerade umstritten sind."

Die Frage der Toleranz ist sicherlich keine einfache. Mit der Kritik an den "Netten" und an der Linken kommt man wohl nicht sehr weit, selbst oder gerade wenn diese Kritik gut begründet ist. Denn einiges deutet darauf hin, dass postmoderne Toleranz zumal in der österreichischen Gesellschaft tiefer verankert ist, als man oft denkt. Wie dem auch sei, etwas mehr Sachlichkeit in der Beurteilung von Lebenseinstellungen und Lebenspraktiken, die in Österreich tatsächlich in Umlauf sind, und etwas weniger Werterelativismus würden der österreichischen Gesellschaft und den Kernländern der EU wohl nicht schaden.