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Wahlrecht oder Wahlunrecht?

Von Heinz Fischer

Gastkommentare

In den europäischen Demokratien sollte die Wahlgerechtigkeit ein wichtiger Faktor sein.


Demokratie ist jene Regierungsform, bei der die Bürgerinnen und Bürger auf der Basis eines allgemeinen, gleichen und fairen Wahlrechtes – das über mehrere Generationen hinweg mühsam erkämpft wurde - durch die Wahl eines allgemeinen Vertretungskörpers (eines Parlaments) an der staatlichen Willensbildung beteiligt sind; in der außerdem die Machtausübung und die Entscheidungsprozesse durch eine Verfassung klar geregelt sind und dadurch auch ein friedlicher Machtwechsel sichergestellt ist.

Der Gedanke der Demokratie hat sich im 20. Jahrhundert – trotz dramatischer und menschenverachtender Ausnahmen und Unterbrechungen – letztlich so umfassend durchgesetzt, dass man heute sagen kann, die Europäische Union ist ein Zusammenschluss demokratischer Staaten.

Wie steht es aber in den europäischen Demokratien mit dem Wahlrecht, also dem Transmissionsriemen zwischen den Wählerinnen und Wählern einerseits und den Gewählten andererseits?

Faktum ist, dass es in Europa kein einheitliches Wahlrecht gibt und das ist kein Makel. Im Gegenteil; das europäische Projekt ist durchaus mit dem Gedanken vereinbar, dass es in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU unterschiedliche historische Entwicklungen oder unterschiedliche politische Traditionen gibt, die sich auch in Unterschieden beim Wahlrecht niederschlagen.

Sollte aber im Wahlrecht europäischer Demokratien die Wahlgerechtigkeit nicht ein wichtiger Faktor sein?

Ich verstehe unter Wahlgerechtigkeit, dass der Wählerwille, also die Verteilung der Wählerstimmen auf die einzelnen wahlwerbenden Parteien und Gruppierungen in der Zusammensetzungdes gewählten Parlaments einen angemessenen Niederschlag findet.

Wenn z.B.: die Partei A mehr Wählerstimmen hat als die Partei B aber weniger Mandate als die Partei B, dann entfernt sich das meines Erachtens zu weit von Gedanken der Wahlgerechtigkeit.

Aber auch wenn die Partei A mit 35% der Wählerstimmen 50% der Mandate erhält und die Partei B mit 30% der Wählerstimmen nur 20% der Mandate, dann ist das Prinzip der Wahlgerechtigkeit verletzt oder zumindest grob herausgefordert.

Wir sieht hier die europäische Praxis aus?

Das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag ist ein solides Verhältniswahlrecht; das heißt, die Stärke der Parteien im Bundestag entspricht im Großen und Ganzen ihrer Wählerstärke. Das hat die Regierungsbildung in Deutschland seit dem 2. Weltkrieg nie ernsthaft behindert.

Großbritannien ist das Mutterland des Mehrheitswahlrechtes. Die konservative Partei erzielte bei der jüngsten Wahl des Unterhauses mit 42,4% der Stimmen 48,1% der Mandate und somit trotz des Mehrheitswahlrechtes keine Mehrheit im Unterhaus. Der Satz, wonach ein Mehrheitswahlrecht eine reibungslose Regierungsbildunggarantiert, ist also falsch.

In Frankreich hat die Bewegung von Macron mit 49,1% der Stimmen etwa 60,7% der Mandate erreicht. Dazu ist zu sagen, dass man auch beim österreichischen Verhältniswahlrecht mit 49,1% der Stimmen eine absolute Mandatsmehrheit erzielt, weil ja bei der Mandatsverteilung nur jene Stimmen Berücksichtigung finden, die auf Parteien entfallen, die die 4%-Grenze überschreiten.

Aber dieser "Verstärkereffekt" ist eben wesentlich kleiner.

In Frankreich hat also der Verstärkereffekt eine Partei (Bewegung) gestärkt, die mit fast 50% der Stimmen auch auf der Basis des deutschen oder des österreichischen Wahlrechtes eineMandatsmehrheit erzielt hätte. Die Stärkung der Mehrheit im französischen Parlament erfolgt naturgemäß zulasten der Opposition, wo z.B. das Linksbündnis mit 7,5% der Stimmen nur 4,7% der Mandate erzielte.

Manche Beobachter sagen schon, dass in der neuen französischen Nationalversammlung nicht die Regierung sondern die parlamentarische Opposition zu schwach sein wird - mit der Gefahr, dass das Pro und Kontra in der Politik verstärkt nicht im Parlament sondern auf der Straße ausgetragen wird.

Ich denke, dass wir beim Gedanken an eine Wahlrechtsreform nicht primär einen "Verstärkereffekt" im Auge haben sollten, sondern eher die Verbesserung des Kontaktes zwischen Wählern und Gewählten und die verstärkte Unabhängigkeit der Mandatare.

Ob ein Durchgriffsrecht oder ein Vetorecht eines Parteiobmannes bei der Erstellung von Kandidatenlisten für den Nationalrat oder den Landtag diesem Zweck dienlich ist – darüber werden die Meinungen sicher auseinandergehen.

Jedenfalls bin ich überzeugt, dass ein gutes Wahlrecht sowohl auf die Aufgaben der Regierung als auch auf die Aufgaben der Opposition Bedacht nehmen muss und dass es dem "Repräsentationscharakter" einer Volksvertretung gerecht werden muss.

Heinz Fischer wurde 1938 in Graz geboren. Von 2004 bis 2016 war er österreichischer Bundespräsident. Davor war er ab 1971 Abgeordneter der SPÖ zum Nationalrat (ab 1975 Klubobmann), von 1983 bis 1987 Wissenschaftsminister und von 1990 bis 2004 zunächst Erster und dann Zweiter Nationalratspräsident. Sein nächster Gastkommentar in der "Wiener Zeitung" erscheint am 20. Juli.